Der Abstimmungssieg der Pflegeinitiative beflügelt die Pflegerinnen und Pfleger. So auch Willy Honegger und Sandra Schmied.
DER DRUCK HAT GENÜTZT! Rund einen Monat vor der Abstimmung gingen 5000 Pflegende in Bern für bessere Arbeitsbedingungen und ein Ja zur Pflegeinitiative auf die Strasse. (Foto: Unia)
Was für ein Erfolg! 61 Prozent stimmen für die Pflegeinitiative. Annahme in allen Kantonen ausser Appenzell Innerrhoden. Ein sensationelles Ja: Zum ersten Mal wird eine Gewerkschaftsinitiative an der Urne angenommen. Die Pandemie hat’s möglich gemacht. Das Volk schreibt Bundesrat und Parlament ins Aufgabenheft, sich endlich um die Situation in den Spitälern und Langzeiteinrichtungen zu kümmern. Verlangt, dass eine «angemessene Abgeltung der Pflegeleistungen» festgelegt wird, und fordert «anforderungsgerechte Arbeitsbedingungen für die in der Pflege tätigen Personen». Der Markt hat versagt, nun braucht es Planung und Vorgaben.
Wie dringend das politische Eingreifen ist, weiss Pflegefachmann Willy Honegger (59). Seit 30 Jahren ist das Unia-Mitglied im Beruf und musste im Kanton Uri mit ansehen, wie im Gesundheitswesen gespart wurde. Nun sind er und seine Kolleginnen und Kollegen völlig am Anschlag. Honegger sagt: «Eine Pflegefachkraft muss sich auf unserer Akutstation auch mal um 20 Personen kümmern. Da ist man schon froh, wenn man abends nach Hause kommt, und nichts ist passiert.» Immer häufiger greife die Heimleitung zudem auf Temporärangestellte zurück, die oft nur für einen Tag da seien und die Abläufe nicht kennen würden. Eine Abhilfe gegen den drückenden Personalmangel sei das nicht. Auch Sandra Schmied (51), Pflegefachfrau aus Bern und ebenfalls aktives Unia-Mitglied, kennt diese Not: «Nachts ist man allein für 36 Leute auf der Station zuständig.»
«Nun muss Schluss sein mit Ausbeutung!»
PERSONALMANGEL
Den Pflegenotstand belegen auch die Statistiken: 11’000 Stellen in der Pflege sind in der Schweiz derzeit nicht besetzt, davon 6200 Fachpersonen. Das vermeldet der Berufsverband der Pflegenden SBK. Wohlgemerkt: Schon eine «Vollbesetzung» würde die Beschäftigten enormem Druck aussetzen, denn die Spitäler und Heime planen mit so wenig Personal wie möglich. Im Angesicht steigender Nachfrage wird sich der Personalmangel in den Pflegeheimen zudem noch verschärfen. Kommt hinzu, dass die jetzigen Arbeitsbedingungen die Pflegenden scharenweise in die Flucht schlagen: Rund 40 Prozent der ausgebildeten Pflegerinnen und Pfleger verlassen den Beruf innert der ersten paar Jahre wieder. Seit Corona: Tendenz steigend!
SOLIDARITÄT
Aber das könnte sich nun ändern. Pfleger Honegger hat jedenfalls etwas Neues beobachtet: «Im Laufe des Abstimmungskampfes ist etwas in der Pflege passiert. Die Teams haben über die Initiative diskutiert. Und wir haben zum ersten Mal das Gefühl bekommen, dass die ganze Pflege zusammensteht.» Pflegerin Schmied bestätigt das: «Als das Ergebnis am Sonntag feststand, da war mir klar: Nun muss die Pflege ihren Platz in der Gesellschaft bekommen. Nun muss Schluss sein mit der jahrelangen Ausbeutung!»
Dem Zufall wollen Schmied und Honegger das aber nicht überlassen. Beide setzen sich dafür ein, dass noch mehr Kolleginnen und Kollegen Teil der Bewegung werden. Der Politik wollen sie dabei genau auf die Finger schauen. «Die Initiative war für uns nicht das Ende», sagt Schmied. «Sie ist erst der Anfang!»