Andreas Rieger
Der Vormarsch der SPD und der Grünen in Deutschland weckte in diesem Sommer linke Hoffnungen. Beide Parteien versprachen eine ökologische und soziale Wende. Und Kanzlerkandidat Olaf Scholz stellte im Wahlkampf einen Mindestlohn von 12 Euro und sichere Altersrenten in Aussicht. Für Rotgrün hat’s dann nicht gereicht, jetzt gibt’s die rot-grün-gelbe «Ampel»-Koalition, zusammen mit der neoliberalen FDP. Das schlägt sich im Regierungsprogramm nieder: es hat nun nur halb so viele Fortschritte.
Die 12 Euro gesetzlicher Mindestlohn sind gesetzt, heute sind es 9,60 Euro. Das ist ein grosser Erfolg der gewerkschaftlichen Mindestlohnkampagne und bringt zehn Millionen Menschen spürbare Lohnerhöhungen. Ein Fortschritt ist auch die vorgesehene Stärkung der Tarifverträge (Gesamtarbeitsverträge) bei öffentlichen Aufträgen. Vergeblich suchen die Gewerkschaften aber eine Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung.
Dass sich die FDP quergestellt hat, zeigt sich auch bei den Regulierungen des Arbeitsmarkts: Arbeit auf Abruf, Temporärarbeit, befristete Arbeitsverträge gibt es auch unter der Ampel-Regierung in Hülle und Fülle. Ebenso die für die Arbeitgeber vorteilhaften sozialversicherungslosen Minijobs.
Man sieht, dass sich die FDP quergestellt hat.
PFLEGE. Ein Fortschritt ist den Streiks des Pflegepersonals zu verdanken: 1 Milliarde Euro sieht die Koalition für einen Pflegebonus und bessere Arbeitszeitgestaltung vor. Allerdings: In den gleichzeitig laufenden Tarifverhandlungen in den Bundesländern sind die Arbeitgeber geizig. «Doppelzüngig» nennt dies Frank Werneke, der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi.
RENTEN. Seit Jahren schrumpfen die Altersrenten in Deutschland. Die «Ampel»-Regierung verspricht das zu stoppen. Dennoch will sie die Renten nur teilweise der Lohnentwicklung anpassen. Das werde langfristig eine «fatale Wirkung» haben, kritisiert der oberste deutsche Gewerkschafter Reiner Hoffmann.
MITWIRKUNG. Dagegen will die «Ampel» bei der Finanzierung der beruflichen Weiterbildung und bei der Mitwirkung der Arbeitnehmenden Fortschritte, von denen wir in der Schweiz nur träumen können. Betriebsräte erhalten zudem mehr Schutz und die Gewerkschaften «digitalen Zutritt in die Betriebe».
Und das Fazit? Das Glas ist definitiv nur halbvoll. Immerhin wird dieser Koalitionsvertrag in der EU fortschrittliche Pläne stützen, wie die Richtlinie für höhere Mindestlöhne und mehr GAV.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.