Fast ein Drittel der Erwerbstätigen fühlen sich durch die Arbeit erschöpft, und Burnout gilt mittlerweile als die häufigste arbeitsbedingte Erkrankung. Zwar lässt sich Stress nicht ganz vermeiden. Gegen ein Übermass davon sollten Sie sich aber wehren.
ICH MAG NICHT MEHR: Anhaltende Gefühle der Erschöpfung sind ein deutliches Anzeichen, dass Zahl und Dauer der Stressmomente Ihre Kräfte übersteigen. (Foto: Adobe Stock)
Fünf Kundinnen stehen im Laden, zeigen Ungeduld, und Sie sind allein. Und dann klingelt noch das Telefon! Sieht so Ihr Alltag aus? Oder so: Das Erdgeschoss muss bis Ende Woche gemauert sein, das gibt viele Überstunden – und dann müssten Sie noch zur anderen Baustelle. Puh, die muss warten, aber das wird Reklamationen geben! Oder so: «Diesen Monat erwarte ich von Ihnen eine Verdoppelung des Umsatzes», sagt die Chefin. «Wie soll ich das schaffen?» fragen Sie. Die Antwort: «Lassen Sie sich etwas einfallen!»
So geht Stress. Und Stress kennen wir alle. Immer besser. Denn immer häufiger tritt er auf. Wichtigste Gründe: Zeit- und Termindruck, Verdichtung der Arbeit und Erhöhung der Arbeitslast durch knappes Personal, fehlende oder nicht ausreichende Erholungsmöglichkeiten, mangelnde Abgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit. Christine Michel, Fachsekretärin Gesundheitsschutz bei der Unia, sagt: «Stress kommt in allen Berufen vor, drückt sich aber verschieden aus. Auf dem Bau sind es typischerweise Zeitdruck und überlange Arbeitszeiten, in Dienstleistungsberufen, etwa im Verkauf, die unregelmässigen Arbeitszeiten und kurzfristige Änderungen der Einsatzpläne. Belastend ist oft auch der Umgang mit schwierigen Kundinnen und Kunden oder der Druck, permanent eine aufgesetzte Fröhlichkeit zur Schau zu tragen. Belastend wirkt es auch, wenn Fachleute ihre professionellen Werte wegen Personalmangels nicht einhalten können, aktuell zum Beispiel in der Pflege.»
Dabei wäre Stress an sich gar kein Problem. Solange er nur punktuell auftritt und wir zwischen Stressmomenten ausreichende Erholungsphasen haben, kommen wir mit ihm zurecht. Er bezeichnet einen Zustand, in dem wir auf äusseren Druck mit der Bereitstellung von einer Extraportion körperlicher oder geistiger Energie reagieren: Wir beeilen uns, wir konzentrieren uns, wir strengen uns an, um die Situation zu meistern. Langzeit- oder Dauerstress jedoch führt zu Erschöpfung. Und die kommt beunruhigend häufig vor: 28,7 Prozent der Erwerbstätigen fühlen sich gemäss dem Schweizer Job-Stress-Index 2020 emotional erschöpft – der Wert steigt seit Jahren kontinuierlich an (2014: 24,8 Prozent).
Gestiegener Zeit- und Leistungsdruck sorgt für immer mehr Stress am Arbeitsplatz.
ZWEI WAAGSCHALEN
Wenn Stress zu Erschöpfung führt, ist unsere innere Waage aus dem Gleichgewicht geraten: Unsere positiven Kräfte – die Fachwelt spricht von «Ressourcen» – reichen nicht mehr aus, den Belastungen am Arbeitsplatz Paroli zu bieten. Höchste Zeit also, die Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Dafür ist es wichtig, sich klar zu werden, wie der übermässige Druck überhaupt entstanden ist. Liegt es an der schieren Überlastung durch die Fülle von Aufgaben oder durch die ständigen Überzeiten? Ist die Arbeit miserabel organisiert? Fühlen Sie sich zu wenig geschätzt für das, was Sie leisten? Werden Sie gar schikaniert? Oder setzen Sie sich selbst so stark unter Druck, dass Sie an den hohen Erwartungen an sich selbst scheitern?
Immer sind es zwei Ebenen, auf denen Sie die Problemlösung angehen können. Die erste, meistens entscheidende Ebene sind Ihre Arbeitsbedingungen. Ihre Firma steht in der Pflicht, Ihre Gesundheit zu schützen – nicht nur Ihre körperliche, sondern auch Ihre psychische. Ihre Vorgesetzten müssen also Vorkehrungen treffen, dass Ihre Stressmomente bewältigbar bleiben. Machen Sie deshalb die Firma auf Ihre Situation aufmerksam, und melden Sie sich bei externen Stellen, wenn Sie sich nicht verstanden fühlen und keine Abhilfe angeboten wird. Als Mitglied können Sie sich an die Unia wenden.
Die andere Ebene ist Ihre eigene Einstellung. Sind Sie zu perfektionistisch? Jagen Sie zu verbissen vielen beruflichen Zielen nach? Gelingt es Ihnen nicht, in der Freizeit abzuschalten? Vernachlässigen Sie ausgleichende Aktivitäten wie Sport, Hobby, Pflege des Freundeskreises? Mit eigenem Verhalten können Sie Ihre seelische Gesundheit beeinflussen – die Organisation «Pro mente sana – psychische Gesundheit stärken» stellt dazu einen guten Leitfaden bereit (promentesana.ch).
Ihre Firma steht in der Pflicht, Ihre körperliche und psychische Gesundheit zu schützen.
BURNOUT ALS BITTERES FINALE
Wer Dauerbelastungen durch Stress überspielt, verdrängt, der eigenen Unfähigkeit zuschreibt und deshalb schweigt, lebt gefährlich. Denn auf die Dauer wird aus der Erschöpfung eine Depression, aus der Geringschätzung der eigenen Person wird eine negative Sicht auf alles, und die Leistungsfähigkeit nimmt spürbar ab. Häufige körperliche Anzeichen eines Burnouts sind Schlaf- und Verdauungsstörungen, Verspannungen, Kopf- und Rückenschmerzen. Spätestens bei diesen Anzeichen gilt es sich einzugestehen, krank zu sein. Denn ohne Hilfe bleibt man im Teufelskreis gefangen.
Schildern Sie bei der ärztlichen Abklärung auf keinen Fall nur die körperlichen Symptome, denn mit Schmerztabletten allein ist Ihnen nicht geholfen. Meist braucht es auch psychotherapeutische Hilfe, um die Psyche wieder ins Lot zu bringen – und Veränderungen an Ihrem Arbeitsplatz, die dafür sorgen, dass Sie nach der Rückkehr nicht im gleichen Fahrwasser landen!
Der Test, die Lektüre
Wie steht es um Ihr persönliches Burnout-Risiko? Ein Team von Schweizer Wissenschaftern hat dazu einen Test entwickelt. Als Testperson bleiben Sie anonym: burnoutprotector.com.
Und noch ein Lesetipp: Die SGB-Broschüre «Wenn Arbeit krank macht – was tun?» bietet einen Leitfaden, wie Sie sich als einzelne Betroffene oder Gruppe gegen gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen wehren können. Zu bestellen über info@sgb.ch. Oder als Download zu beziehen: rebrand.ly/sgbbrosch.