Andreas Rieger
«Brandgefährlich» bis «historisch», so wird die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro in Deutschland taxiert. Und historisch ist das tatsächlich: Erstmals in der Geschichte unseres nördlichen Nachbarlandes gibt es eine Lohnerhöhung von über 20 Prozent. Denn heute beträgt der Mindestlohn in Deutschland 9 Euro 82. Je nach Berechnung profitieren davon 6 bis 8 Millionen Arbeitende direkt und einige weitere Millionen indirekt.
Brandgefährlich» findet das der Boss der deutschen Bosse, Rainer Dulger. Er redet von «Staatslöhnen» und prophezeit wieder einmal massive Jobverluste. Dies, obwohl sich solche Drohungen immer als falsch erwiesen haben. Dulger ist sauer. Sauer, weil die Politik die 12 Euro beschlossen hat – und nicht die tripartite deutsche Mindestlohnkommission. Dort hätte er das Veto einlegen können.
Die Erhöhung des Mindestlohns ist historisch.
SPD HÄLT WORT. In der Tat sind die 12 Euro ein grosser Schritt nach vorne. Allerdings war der Mindestlohn in Deutschland bisher auch sehr tief. Die Regierung von Gerhard Schröder hatte ab dem Jahr 2000 bekanntlich einen riesigen Tieflohnsektor aufgebaut. Millionen arbeiteten zu Armutslöhnen, vor allem in den Dienstleistungsbranchen und insbesondere die Frauen. Bei seiner Einführung 2015 betrug der gesetzliche Mindestlohn gerade mal 8 Euro 50. In den folgenden Jahren beschloss die tripartite Mindestlohnkommission nur homöopathische Erhöhungen, weil sich die Arbeitgeber gegen mehr stemmten. Also forderten die Gewerkschaften die 12 Euro auf politischem Weg. Eine populäre Forderung. Mehr als 80 Prozent der linken und grünen Wählerinnen und Wähler begrüssten sie. Aber auch über 70 Prozent der CDU-Fans. Die SPD setzte deshalb die 12 Euro ins Zentrum ihrer Wahlkampagne. Jetzt hat sie als Regierungspartei Wort gehalten. Bereits auf den 1. Oktober sieht der Gesetzesentwurf von SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil die Einführung vor.
MEHR VERTRÄGE. Hubertus Heil geht aber noch weiter und fordert: «Wir brauchen mehr ordentliche Tarifverträge.» In Deutschland sind nur noch die Hälfte der Arbeitenden durch Kollektivverträge geschützt. Heil will deshalb mithelfen, dass endlich ein allgemeinverbindlicher Vertrag für die Branche der Alters- und Pflegeheime kommt. Damit könnte gleich das ganze Lohngefüge angehoben werden.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.