Ende Februar diskutiert der Unia-Kongress auch die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten. Das Verhältnis zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit müsse endlich verbessert werden, sagt Unia-Präsidentin Alleva.
UNIA-CHEFIN VANIA ALLEVA: «Der Kampf für kürzere Arbeitszeiten war für die Gewerkschaftsbewegung seit je zentral. Und das bleibt auch so.» (Foto: Peter Mosimann)
work: Die Unia will die Arbeitszeit verkürzen. Ein Kongresspapier sieht gar die Lancierung eines Initiativprojekts vor. Warum gerade jetzt?
Vania Alleva: Der Kampf für kürzere Arbeitszeiten war für die Gewerkschaftsbewegung seit je zentral. Und das bleibt auch mit Blick auf eine sozial gerechte und nachhaltige Zukunft so: Die gerechte Verteilung von Arbeitszeit und freier Lebenszeit – und damit auch von bezahlter und unbezahlter Arbeit – ist eine gewerkschaftliche Schlüsselforderung. Ihr politischer Stellenwert kann gar nicht überschätzt werden. Aber wir diskutieren am Kongress ja auch über andere Initiativideen: über einen besseren Kündigungsschutz, über die Finanzierung des ökosozialen Umbaus und über die Idee einer Jobgarantie. Auch diese Themen sind selbstverständlich wichtig.
Wir brauchen dringend eine Verkürzung der Vollzeitpensen.
Welche Idee gefällt Ihnen am besten?
Es geht hier nicht um mich. Der Kongress wird entscheiden, ob wir überhaupt ein Projekt lancieren, und wenn ja, welches. Denn ohne Risiken ist keins: Bei der Arbeitszeitverkürzung ist unklar, auf welches Modell wir uns einigen könnten. Beim Kündigungsschutz läuft bereits eine Mediation der Sozialpartner für eine Gesetzesänderung, und eine Abstimmungsniederlage könnte jeden Fortschritt blockieren. Insbesondere ein besonderer Schutz für Vertrauensleute hätte es in einer Volksabstimmung sehr schwer, so unsere Schätzung. Um die Finanzierung des ökosozialen Umbaus kümmern sich schon andere Gruppierungen. Und das Projekt einer Jobgarantie, die die Vollbeschäftigung sichern soll, ist praktisch noch kaum erprobt.
200 JAHRE KAMPF UM ARBEITSZEIT: Vom 15-Stunden-Tag 1820 über die 44-Stunden-Woche-Initiative der Gewerkschaften 1959, …
Überall laufen Versuche mit der 4-Tage-Erwerbsarbeits-Woche, etwa in Island oder Spanien. Und sogar der Konzern Unilever experimentiert inzwischen damit. Ist die Unia jetzt nicht etwas spät dran?
Wie gesagt, wir sind nicht erst seit kurzem aktiv in dieser Frage. Und wir erreichen auch immer wieder Verbesserungen in Gesamtarbeitsverträgen, insbesondere zusätzliche Ferienansprüche. Was stimmt: Die grossen historischen Fortschritte – der 8-Stunden-Tag, die 5-Tage-Woche, 4 Ferienwochen für alle und zuletzt die Frühpensionierung im Baugewerbe – liegen bereits Jahrzehnte zurück. Stattdessen müssen wir in den letzten Jahren die Arbeitszeiten gegen immer extremere Flexibilisierungsangriffe verteidigen.
Wir haben mindestens zwanzig Referenden gegen die versuchte Ausweitung der Ladenöffnungszeiten ergriffen, meist mit Erfolg. Bisher konnten wir auch die Deregulierungsangriffe gegen das Arbeitsgesetz im Parlament blockieren – und damit auch die Möglichkeit einer 70-Stunden-Woche. Zudem haben wir uns stark für die Erhaltung der Arbeitszeiterfassung engagiert. Die Arbeitgeber wollten sie abschaffen, um freie Hand dafür zu haben, die Leute unbezahlte Mehrarbeit leisten zu lassen.
Sie wollen raus aus der Defensive und rein in die Offensive?
Ja! Wir brauchen eine bessere Verteilung der Arbeit. Es kann nicht sein, dass die einen chrampfen müssen, bis sie krank werden, und die andern keinen Job finden. Auch das Verhältnis zwischen bezahlter Erwerbsarbeit und unbezahlter Care-Arbeit muss verbessert werden. Dazu sind kürzere Arbeitszeiten für alle unerlässlich.
… bis zum SGB-Frauenkongress im Herbst 2021.(Fotos: ETH, Wiki, Sozialarchiv, SGB)
Manche sind skeptisch, weil sie von verkürzten Arbeitszeiten mehr Stress und eine weitere Verdichtung der Arbeit befürchten. Zu Recht?
Das Verdichtungsproblem haben wir heute schon, etwa in der Pflege. Dort arbeiten immer mehr erschöpfte Mitarbeitende nur noch Teilzeit, weil der Stress zu gross ist. Das kommt einer privaten Arbeitszeitverkürzung gleich, für die die Betroffenen selber aufkommen müssen. Das ist aber nicht, was wir wollen. Wir brauchen dringend eine Verkürzung der Vollzeitpensen. Eine Arbeitsverdichtung verhindern wir, indem wir Arbeitszeitreduktionen nicht nur mit Lohn, sondern zwingend auch mit Personalausgleich verbinden. Das heisst, es müssen gleichzeitig neue Stellen geschaffen werden.
Der Widerstand der Arbeitgeber gegen kürzere Arbeitszeiten ist gross. Sogar grösser als gegen Lohnerhöhungen. Wie wollen Sie den brechen?
Klar ist der Widerstand gross, denn bei der Arbeitszeitverkürzung geht es um eine Schlüsselfrage des Verteilkampfes. Für die Frühpensionierung im Bauhauptgewerbe waren grosse Streikaktionen nötig. Ich sage: ohne Mobilisierung erreichen wir da nichts!
Unia-Kongress: Vor einer Volksinitiative?
Zwei Kongresstage fanden schon letztes Jahr im Juni statt – wegen der Pandemie nur online. Jetzt steht der dritte Kongresstag an, diesmal live im Kongresshaus Biel. Am Samstag, 26. Februar, beschliessen die Unia-Delegierten aus den Regionen, Sektoren und Interessengruppen zusammen mit dem Zentralvorstand, ob ein Projekt für eine Volksinitiative lanciert werden soll. Und wenn ja, welches. Grundlage sind vier Positionspapiere zu den Themen Arbeitnehmerrechte, mehr Lohn und mehr Zeit, ökosozialer Umbau sowie solidarische Krisenbewältigung.