Industriearchäologe Hans-Peter Bärtschi: Der Werkplatz Schweiz war seine Leidenschaft

Wenn es einen wahren Fan der Schweizer Industrie gab, dann hiess er Hans-Peter Bärtschi. Winterthur, aber auch andere Orte sähen anders aus ohne ihn. Schlechter.

DEN WERKPLATZ FEST IM BLICK: Hans-Peter Bärtschi 2015 in der Nagelfabrik Winterthur mit seinem Hund Poirot. Dank Bärtschis Einsatz blieben diese Industrie­hallen erhalten. (Foto: Helen Girardier)

Gleich beim Bahnhof Winterthur – im Sulzer-Areal – blüht das Leben. In den alten Industriehallen sind neue Geschäfte eingezogen. Kinos und hippe Restaurants buhlen um Publikum. Junge Familien wohnen dort. Und wo einst geschmiedet und gehämmert wurde, rauchen jetzt Köpfe in der Fachhochschule. Das Sulzer-Areal hat den Sprung geschafft: von der industriellen Vergangenheit in die moderne Gegenwart. Doch die Umnutzung dieser riesigen Industriebrache kam nicht von selbst. Es brauchte erst den Sinn und das Verständnis für den historischen Wert dieses Areals. Es brauchte Hans-Peter Bärtschi.

Bärtschi rettete viele steinerne und eiserne Zeugen vor dem Abriss.

LEHRPFAD

Nicht anders zwischen Greifensee und Tösstal ZH. Dort gibt es einen Industrielehrpfad. Im Zürcher Oberland begann die Industrialisierung der Schweiz. Das Herzstück ist das Industrieensemble Neuthal aus dem 19. Jahrhundert. Hier chrampften die Arbeiterinnen und Arbeiter zwölf Stunden am Tag für den reichen Patron Guyer-Zeller. Quer durch die Landschaft schnauft im Sommer die alte Dampfbahn von Hinwil nach Bauma. 35 Franken kostet die Fahrt retour. Wäre dies alles möglich gewesen ohne Hans-Peter Bärtschi?
Eher nicht. Denn zum Glück war der Mann ein Besessener. Alles, was nach Dampfkraft, Schwermetall und Maschinenöl roch, liess Bärtschi zeitlebens nicht los. Der studierte ETH-Architekt war fasziniert von den Wundern des Produktionskapitalismus. Er wollte diese bewahren als Zeugnis einer wichtigen Epoche. Jeder Abbruch eines Gaskessels, jede geschleifte Shedhalle tat ihm persönlich weh.

Bärtschi stemmte sich gegen die grossflächige Demontage des Werkplatzes Schweiz. Daher beschwor er seine Bedeutung und Geschichte, forschte nach, schrieb Gutachten, machte Tausende von Fotos, verfasste Bücher, organisierte Kongresse, gründete Stiftungen, suchte Gleichgesinnte und Verbündete, klärte auf und motivierte. Unermüdlich, ein Leben lang. Auch für work: 2009 schrieb er als Kolumnist eine Serie mit Touren zu bekannten Industriedenkmälern.

ARCHÄOLOGE

Bärtschi ist der Inbegriff dessen, was heute Industriearchäologie heisst. Eine Wissenschaft, die aufzeigt, wie sich unsere Industrie dank Arbeitskraft, Technologie und Kapital entwickelt und ­dabei Land und Städte tiefgreifend verändert hat. Bärtschis Einsatz rettete viele steinerne und eiserne Zeugen der industriellen Hochblüte vor dem Abriss. Zum Beispiel die «Nagli» in Winterthur Grüze. Heute noch die einzige Nagelfabrik der Schweiz, original aus dem Jahr 1895 (siehe Reportage Seite 3). Dank der Stiftung Arias-Industriekultur, die Bärtschi gegründet hat, blieb der Betrieb erhalten. Er produziert täglich Nägel mit Köpfen und steht unter Denkmalschutz.

Bärtschis Hauptwerk erschien vor zehn Jahren. Bezeichnender Titel: «Aufgebaut und ausverkauft» (Verlag Hier + Jetzt, Baden). Bärtschi erzählt tausend Geschichten vom Werkplatz Schweiz. Wie er aufstieg und wie ihn ruchlose Investoren, unfähige Manager und Aasgeier aus der Finanzindustrie ausweiden. Das machte Bärtschi, den linken 68er, wütend.

Emotional konnte er dabei aus der eigenen Biographie schöpfen. In jungen Jahren war er Mitglied der surrealen Politsekte der Maoisten (KPS/ML). Bärtschi hiess damals die Armee und selbst Atomkraftwerke gut und machte in Albanien, Bulgarien und China statt in Italien Ferien. Bis er den Irrweg einsah. Wie sich das anfühlte, ist in seinem Buch «Der Osten war rot» nachzulesen. Eine gespenstische Lektüre. Da die ETH keinen roten Professor wollte, musste ­Bärtschi eigene Wege einschlagen.

«ZUVIELISATION»

Am 3. Februar erschien seine Todesanzeige. Hans-Peter Bärtschi hat sie noch selbst getextet. Er schrieb darin von der «Zuviel-isation auf dieser Welt» und machte so ein letztes Mal seinem Ärger über die ökologische Zerstörung unserer Welt Luft.

Bärtschi starb mit 71 Jahren an den Spätfolgen eines Velounfalls. Doch sein Werk lebt weiter. Auch seine vielen Bilder, die er auf Reisen in 120 Ländern geschossen hat. Industriekultur gibt es ja nicht nur in der Schweiz, sondern überall auf der Erde. Wer Lust hat, kann die insgesamt 58’352 Fotos von Lokomotiven, Bahnhöfen und Strassenbahnen von Zürich Wollishofen bis Kuba im ETH-Bildarchiv online anschauen.

Die umfassende Fotosammlung von Hans-Peter Bärtschi ist abrufbar unter: ba.e-pics.ethz.ch.

1 Kommentare

  1. Thomas Schmid 12. Januar 2023 um 9:42 Uhr

    Bei der Vorbereitung und Gründung des Dampfzentrums Winterthur, welches die Sammlung des Vaporamas Thun übernahm, war Hanspeter Bärtschi mit uns zusammen aktiv.
    Bis zu seinem Velounfall.
    In der Zeitschrift Beobachter erschien ein Artikel zu Hanspeter. Darin erwähnt er, wieviel Museen und ähnliche Institutionen er gründete.
    Er bleibt mir in Erinnerung!

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