Andreas Rieger
Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) ist alarmiert: In Europa schwindet der Arbeitsschutz. Mehrere Regierungen haben ihn in den letzten Jahren heruntergefahren. Die Anzahl der Kontrollen an den Arbeitsplätzen sank zwischen 2010 und 2019 um ein Fünftel. Sogar um ein Viertel ging er etwa in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Portugal zurück. Grund dafür: die Sparwut, die nach der Krise der Finanzwirtschaft überall tobte. Der EGB ist empört und nennt es skandalös: «Die Arbeitskontrollen sind auf einen Tiefpunkt gesunken. Und dies just zum Ausbruch der Corona-Pandemie, als Gesundheitsschutz noch lebenswichtiger wurde.» Das gilt auch für die Schweiz: Die Zahl der Inspektionen zu Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit sank hier zwischen 2014 und 2019 um zehn Prozent.
In Spanien und Italien schlagen die Arbeitsinspektorate Alarm.
VOLLZUGS-NOTSTAND. Zwar sind die Rechte der Arbeitnehmenden in vielen Ländern Europas in den letzten Jahrzehnten flexibilisiert worden. Das Niveau des Schutzes ist aber immer noch höher als im Rest der Welt. Das grosse Problem ist jedoch, dass der Schutz von Arbeitnehmenden oft nur auf dem Papier steht, gerade bei den prekär Beschäftigten. Es genügt nicht, recht zu haben, man muss auch recht bekommen. Deshalb gibt es neben den Gewerkschaften auch die Arbeitsinspektorate. Beim Skandal in der deutschen Fleischwirtschaft wurde der Öffentlichkeit plötzlich bewusst, dass die grausliche Realität mit den schönen Gesetzen nichts zu tun hatte. Umso absurder ist es, wenn die EU-Kommission der Schweiz vorwirft, sie würde zwecks Lohnschutz unverhältnismässig viel kontrollieren und Verstösse zu stark sanktionieren.
ALARM. Neuerdings schlagen die Arbeitsinspektorate, also die Profis von der Front, selbst Alarm. In Spanien sind sie im März sogar in einen Streik getreten, um gegen fehlende Stellen zu protestieren. Das neue Arbeitsgesetz, das jetzt in Spanien in Kraft tritt, bleibe ein Papiertiger, wenn die verstärkten Schutzmassnahmen der Arbeitenden nicht auch kontrolliert würden. Alarmstimmung auch in Italien: 2021 gab es dort über tausend Todesfälle auf der Arbeit. So viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Gewerkschaften rütteln nun Öffentlichkeit und Politik auf. Sie verlangen weniger Arbeitsdruck und mehr Inspektionen.
Andreas Rieger war Co-Präsident der Unia. Er ist in der europäischen Gewerkschaftsbewegung aktiv.