Kurier Maher Bouazizi (43) hat genug:
«Jetzt verklage ich Smood»

Um mehr als 60’000 Franken hat der Lieferdienst Smood Fahrer Maher Bouazizi bisher geprellt. Jetzt geht er vor Gericht. Und nicht nur er.

MUT GEFASST: Der Streik mit seinen Smood-Kolleginnen und -Kollegen Anfang Jahr zeigte Bouazizi: «Ich bin nicht alleine.» (Foto: Sébastien Agnetti)

Smood-Fahrer Maher Bouazizi sitzt am Steuer seines Seat und fährt vom Wohnort Martigny VS nach Vevey im Kanton Waadt. Gut eine halbe Stunde dauert die Fahrt. Er kennt die Strecke wie keine andere: Es ist sein Arbeitsweg. An einem normalen Arbeitstag muss er sich in Vevey ­zu Beginn seiner Schicht in die Smood-App einloggen und dann auf Aufträge warten. Doch heute liefert Bouazizi kein Essen aus. Sein Ziel in Vevey ist die Rue du Simplon 22. Dort steht das Re­gionalgericht Ost des Kantons Waadt. Bouazizi sagt: «Heute klage ich gegen meinen Arbeitgeber.»

Auf diesen Tag wartet Bouazizi schon lange. Vor zweieinhalb Jahren hat er beim Essenslieferdienst Smood angefangen. Und schon bald gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Dass Arbeitsstunden nicht bezahlt werden. Oder dass er zwar mit seinem eigenen Auto die Mahlzeiten ausliefern muss. Aber pro gefahrenen Kilometer nur ein paar Rappen bekommt – nicht einmal genug fürs Benzin.

Während Bouazizi auf Bestellungen wartet, ist sein Verdienst: null.

FÜNF WOCHEN STREIK

Links zieht der Genfersee vorbei. Bouazizi schildert, wie er versucht hat, mit seinen Chefs zu sprechen: «Auf meine Fragen kam meist nicht einmal eine Antwort.» Bouazizi liess nicht locker und engagierte einen Anwalt. Der schrieb Briefe an Smood und dessen Subunternehmen Simple Pay, bei dem Bouazizi unter Vertrag ist. Auch das brachte nichts. Doch dann traf er andere Fahrerinnen und Fahrer, die sich ebenfalls wehrten. Unterstützt von der Unia. «Da habe ich gemerkt, dass ich nicht alleine bin. Das hat mir Mut gegeben.»

Gemeinsam haben die «Smoodeurs» dann gestreikt: fünf Wochen lang (work berichtete: rebrand.ly/smoodstreik). Die Schlichtung nach dem Streik scheiterte. Drum trifft Bouazizi heute im Hof vor dem Regionalgericht seine Unia-Kollegen und die Anwältin Elisabeth Chappuis, die seine Klage verfasst hat. Mehr noch: Gleichzeitig mit Bouazizi reicht je ein Smood-Fahrer eine ähnliche Klage auch in den Kantonen Genf, Neuenburg und Wallis ein, ebenfalls unterstützt von der Unia. Weitere sollen folgen. Die Klagen weisen detailliert nach, wo überall Smood und Simple Pay die Gesetze und Regeln nicht einhalten und Fahrerinnen und Fahrer prellen. Dabei geht es um viel Geld: Drei Fahrer erheben Anspruch auf 15’000 bis 28’000 Franken. Bei Maher Bouazizi sind es sogar gut 61’000 Franken.

Smood reagiert auf Anfragen wie immer: nämlich gar nicht.

1600 STUNDEN UNBEZAHLT

Etwa zwei Drittel davon sind nicht bezahlte Stunden. Das kann Bouazizi exakt beweisen, denn er hat von Anfang an Buch geführt. Die Summe seiner Smood-Schichten bis und mit März dieses Jahres beträgt demnach genau 3544 Stunden und 25 Minuten. Bezahlt wurde er aber nur während 1928 Stunden und 9 Minuten. Denn Simple Pay trickst bei der Arbeitszeit und zählt nur die Minuten, in denen die Fahrerinnen und Fahrer eine Bestellung ausliefern. Aber nicht die Rückfahrt und auch nicht die Wartezeit zwischen zwei Bestellungen. Und die könne lang sein, sagt Fahrer Maher Bouazizi: «Manchmal kommt zwei, drei Stunden lang keine einzige Bestellung.» Sein Verdienst in dieser Zeit: null.

Das sei illegal, kritisiert Anwältin Chappuis in der Klage. Auch die Genfer Schlichtungs­behörde, die sich diesen Februar nach dem Streik einschaltete, bezeichnete das Vorgehen von Simple Pay als «nicht akzeptabel». Tatsächlich ist die Verordnung des Bundesrates zum Arbeitsgesetz glasklar: Als Arbeitszeit «gilt die Zeit, während der sich der ­Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin zur Verfügung des ­Arbeitgebers zu halten hat». Doch Simple Pay ignoriert dies.

Daneben, so Chappuis weiter, schulde Simple Pay Bouazizi gut 9700 Franken an Zuschlägen für Sonntags- und Nachtarbeit und rund 9800 Franken an Spesen. Für die gefahrenen Kilo­meter, aber auch für die Benutzung des privaten Handys und das Reinigen von Uniform und Smood-Tasche. Smood reagierte auf Anfrage von work in gewohnter ­Manier. Nämlich gar nicht.

KEINE ANTWORT

Anwältin Chappuis steigt die Treppe zum Gericht hoch und reicht die Klage ein. Gleichzeitig mit ihren Kolleginnen und Kol­legen in Genf, Neuenburg und Sion. Die Unia-Delegation gruppiert sich fürs Foto, in der Mitte macht Maher Bouazizi das Victory-Zeichen (siehe kleines Foto).Dann steigt er wieder ins Auto und fährt heim nach Mar­tigny.

Übrigens: Smood operiert auch in Martigny. Als Bouazizi vor zwei Jahren von der Waadt ins Wallis zügelte, fragte er an, ob er von dort aus arbeiten könne, statt jeden Tag nach Vevey zu pendeln. Er erhielt keine Antwort.

Die Unia rät: Smoodeurs, führt Buch!

Die vier eingereichten Klagen zeigen: Smood und sein Sub­unternehmen Simple Pay foutieren sich ums geltende Recht. Doch in den meisten Kantonen schauen die Kontrollbehörden tatenlos zu. Mit dem Resultat, dass Smood bisher straflos bleibt.

ALLES NOTIEREN. Schluss damit, sagt jetzt die Unia. Sie ­ermuntert alle Fahrerinnen und Fahrer, ihre geleisteten Arbeitsstunden und Kosten gewissenhaft aufzuzeichnen, als Grund­lage für individuelle Gerichtsverfahren. Die Unia unterstützt ihre Mitglieder dabei.

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