Giorgio Tuti hört nach 14 Jahren an der Spitze der Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV auf. Und macht in Europa weiter.
«UUSSCHTIIGE, BITTE. IISCHTIIGE, BITTE»: Nach 14 Jahren gibt Giorgio Tuti seinen Posten als oberster Eisenbahn-Gewerkschafter der Schweiz ab und widmet sich ganz seiner Arbeit auf europäischer Ebene. (Foto: SEV)
work: Giorgio Tuti, Sie sind ein Vierteljahrhundert beim SEV, davon 14 Jahre als Präsident. Wie fühlt sich da ein Abschied an?
Giorgio Tuti: Gerne sagen Leute, sie verliessen einen Posten mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Das kann ich nicht sagen: Ich gehe mit zwei lachenden Augen. Ich habe meinen Job nicht nur geliebt, ich habe ihn sozusagen aufgesogen. Er wurde ein grosser Teil meines Lebens. Es ist ein guter Moment, um einer Nachfolgerin oder einem Nachfolger Platz zu machen. Auch weil die Organisation gut aufgestellt ist. Alle grösseren Gesamtarbeitsverträge sind am Schärme oder die laufenden Verhandlungen auf gutem Weg.
Wer ist eigentlich Favoritin oder Favorit für Ihre Nachfolge?
Ich weiss es nicht! Da kümmert sich eine Findungskommission darum, der ich nicht angehöre. Und das ist auch richtig und gut so.
Was zog Sie seinerzeit aus dem Tessin von der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) zurück in die Deutschschweiz zum SEV?
Es war ein historisches Riesenprojekt: weg vom Beamtengesetz hin zum Bundespersonalgesetz. Zum ersten Mal musste der SEV mit den SBB einen GAV aushandeln. Das war eine riesige Herausforderung für den Verband. Wir mussten die entsprechenden Strukturen erst schaffen. Das waren extrem spannende Zeiten, und ich war voller Elan. Wir organisierten zig Versammlungen, um das System Gesamtarbeitsvertag (GAV) zu erklären, um die Verhandlungsinstrumente vorzustellen und aufzubauen. Kurzum: Der SEV musste als Organisation GAV-kompatibel werden. Und der SEV musste das GAV-Handwerk lernen. Als im Juni 2000 der erste SBB-Gesamtarbeitsvertrag unterschrieben war, dachte ich eigentlich: Mission erfüllt, jetzt kann ich weiterziehen.
Und trotzdem blieben Sie?
Ja! Weil, was ich nicht richtig bedacht hatte: der SBB-GAV war ja einfach der erste, der historische. Aber es kamen andere. Und da begriff ich die neue Herausforderung: ab dem ersten SBB-GAV eine kohärente, seriöse und professionelle Vertragspolitik zu entwickeln.
«Wir nehmen es mit jedem auf, den uns die SBB vorsetzen.»
Wer war eigentlich Ihr liebster Generaldirektor oder CEO bei den SBB?
Ich habe nie ein Ranking gemacht (lacht). Mein Prinzip war immer: Wir nehmen es mit jedem auf, den uns die andere Seite vorsetzt. Viel wichtiger als die Frage nach dem CEO ist mir, dass wir als SEV uns jeweils einig werden: Wohin wollen wir, in welchem Zeitraum und mit welchen Mitteln?
Jetzt weichen Sie aber aus! Nach dem Abgang von CEO Andreas Meyer forderten Sie als Nachfolger im work: «Keinen eiskalten Manager, der den ganzen Tag mit dem Taschenrechner rumläuft.»
(Lacht.) So, habe ich das gesagt?
Was sind neben der Umstellung auf das GAV-System die eindrücklichsten Ereignisse Ihrer Zeit beim SEV?
Da gibt es viele. Ich beschränke mich auf zwei. Ein politisches und ein persönliches.
Sicher der Streik 2008 in den SBB-Werkstätten in Bellinzona. Es war der erste Streik bei den Schweizerischen Bundesbahnen seit 1918! Und er dauerte 33 Tage. Auch das war historisch. «Bellinzona» war auch eine Folge des für SEV und SBB neuen GAV-Regimes. Der Ton wurde härter und die Friktionen häufiger. Weil wir verhandeln und uns einigen mussten. Zuvor hatte mit dem Bund jeweils ein Dritter entschieden.
Auf der persönlichen und emotionalen Ebene einprägsam war, dass meine beiden Vorgänger Ernst Leuenberger und Pierre-Alain Gentil innert kurzer Zeit starben. Mit Ernst Leuenberger hatte ich über viele Jahre ein sehr enges Verhältnis. Und mit seinem Nachfolger ein sehr gutes. Plötzlich waren beide Referenzpersonen weg.
Stichwort Ernst Leuenberger, ein Solothurner wie Sie. Ist eine SEV-Spitze ohne Solothurner überhaupt denkbar?
Also in meinem Fall war das eher Zufall. Der heutige SP-Ständerat und damalige Sekretär des Gewerkschaftsbunds Kanton Solothurn, Roberto Zanetti, wurde zum Gemeindepräsidenten von Gerlafingen gewählt. Ernst Leuenberger suchte darum einen Nachfolger für ihn. Zanetti kannte mich von Gerlafingen her und schlug mich vor. So begann das. Und übrigens: zuerst war ich Italiener, bevor ich Schweizer und damit Solothurner wurde (lacht).
Und jetzt sind Sie als Präsident der Sektion Eisenbahn der Europäischen Transportarbeiter-Föderation (ETF) quasi auch noch Gesamteuropäer. Dieses Amt behalten Sie. Wie unterscheiden sich die gewerkschaftlichen Herausforderungen in der Schweiz und in Europa?
Zuerst einmal in der Grösse: In der Schweiz haben wir 4 Landessprachen. In Europa sind es 24. Das macht die Kommunikation schon einmal rein technisch schwieriger. Herausfordernder sind aber die wesentlich grösseren geschichtlichen und kulturellen Unterschiede zwischen den EU-Ländern im Vergleich zu jenen innerhalb der Schweiz. Da gilt es viel mehr Sensibilitäten zu berücksichtigen. Das macht alles ein bisschen komplizierter und komplexer. Die ETF-Sektion, der ich vorstehe, umfasst 37 Länder, 83 Gewerkschaften und ist zuständig für rund 800’000 Eisenbahnerinnen und Eisenbahner.
Und die Gemeinsamkeiten?
Die Themen. Allen voran die Liberalisierungswelle, die seit Jahrzehnten über den gesamten europäischen Schienenverkehr hereinbricht. In der Schweiz sind wir im Verhältnis noch gut davongekommen. Wir haben es zusammen mit unseren politischen Verbündeten geschafft, dass nicht alles einem blutigen Wettbewerb ausgesetzt wird. Zumindest im Personenverkehr.
Erzählen Sie Ihren europäischen Kolleginnen und Kollegen davon?
Nicht nur den Kolleginnen und Kollegen, sondern ganz besonders auch der Politik und den Bahnbetreibern.
Und die hören auf Sie?
Zumindest hören sie zu! Ich sage ihnen jeweils: Schaut hin, die Liberalisierungen haben gar nichts gebracht. Wenn ihr die Schweiz – zu Recht! – für ihre «Best practice» bei der Dienstleistung Schienenverkehr rühmt, müsst ihr auch genauer hinschauen, warum das möglich ist. Im Personenverkehr auf der Schiene gibt es in der Schweiz praktisch keine Konkurrenz, dafür Kooperation. Gute Service-public-Leistungen für ein gutes, sicheres und bezahlbares Produkt produziert man gemeinsam, nicht gegeneinander. Und indem man genügend und gut ausgebildetes Personal zu guten Anstellungs- und Arbeitsbedingungen anstellt. Das ist mein Credo in der Schweiz. Und damit weible ich auch in Europa.
Sie präsidieren auch weiterhin den «Sozialdialog Eisenbahn». Können Sie uns den kurz erklären?
Die sogenannten Sozialdialoge sind EU-Instrumente, in denen Gewerkschaften und Arbeitgeber über Branchen-Herausforderungen diskutieren. Es gibt, vereinfacht gesagt, drei Ergebnisformen. 1. Nach einer Diskussion einigt man sich auf eine «gemeinsame Kommunikation». 2. Gewerkschaften und Arbeitgeber ringen sich zu gemeinsamen Empfehlungen durch. Die sind allerdings nicht bindend. Oder 3. Gewerkschaften und Arbeitgeber führen echte Verhandlungen. Werden sie sich einig, können sie das Ergebnis für verbindlich erklären.
Ich habe bei meinem Amtsantritt klar gesagt, dass ich an echten Verhandlungen mit bindenden Ergebnissen interessiert bin und weniger an gemeinsamen Verlautbarungen. Weil ich überzeugt bin, dass die Qualität der sozialen Dialoge nur über Inhalte gelingen kann und sicher nicht über Strukturdebatten als Beispiel.
Und tatsächlich ist da ab 2019 etwas in Gang gekommen: Es geht darum, bei den Bahnen die Arbeits- und Anstellungsbedingungen für die Frauen nachhaltig zu verbessern und attraktiver zu machen, damit mehr Frauen in die Eisenbahnunternehmen eintreten. Dieser soziale Dialog heisst «Women in Rail». Und die Ergebnisse gelten in der ganzen Eisenbahnbranche in Europa. Das ist – ich gebe es zu – für mich auch eine persönliche Genugtuung.
Das Eisenbahngeschäft ist ja nicht grad in Frauenhand …
Das ist von Land zu Land unterschiedlich. Die Spanne reicht von einem Frauenanteil von 3,9 Prozent in der Türkei bis zu knapp 30 Prozent in der Slowakei, Polen oder Bulgarien. Die Schweiz hat mit etwa 20 Prozent auch noch viel Luft nach oben. Klar ist: Die Bahnen können es sich schon aus purem Eigeninteresse nicht mehr leisten, für Frauen unattraktive Arbeitgeberinnen zu sein.
Giorgio Tuti Immer in Bewegung
Giorgio Tuti (58) ist schweizerisch-italienischer Doppelbürger. Er ist ausgebildeter Manager für Nonprofitorganisationen und engagiert sich sein ganzes Berufsleben lang für die Gewerkschaftsbewegung.
TESSIN RETOUR. Angefangen hat er bei der damaligen Gewerkschaft Bau und Holz als «Ausländerbeauftragter», wie das damals noch hiess. Danach wechselte er als Sekretär zum Gewerkschaftsbund Kanton Solothurn, war ein rundes halbes Jahr beim Smuv, danach etliche Jahre für die GBI im Tessin. Um dann 1997 in die Deutschschweiz zurückzukehren und beim SEV anzufangen. Ab 2001 war er Vizepräsident. Nach dem Tod von Pierre-Alain Gentil im Herbst 2008 führte er den SEV ad interim. Der SEV-Kongress im Mai 2009 wählte ihn zum Präsidenten.