Jean Ziegler
Es war Mittwoch, der 31. August, um 23 Uhr 47. Im ersten Stock des Palais Wilson am Genfersee, dem Sitz des Uno-Hochkommissariats für Menschenrechte, brannten hell die Kronleuchter. Die Hochkommissarin Michelle Bachelet und das Dutzend ihrer engsten Mitarbeitenden sassen vor dem Bildschirm. Dreizehn Minuten vor dem Ende ihrer Amtszeit setzte sie einen 51seitigen Untersuchungsbericht in die Welt über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die chinesische Staatsmacht an den Uiguren und anderen muslimischen Minderheiten in der Region Xinjiang begangen hat. Der Bericht schlug ein wie eine Bombe.
Die Schweiz sollte sofort den Freihandelsvertrag mit China kündigen.
ETHNISCHE SÄUBERUNG. Seit der chinesische Präsident Xi Jinping 2014 die ethnische Säuberung in Xinjiang intensivierte, kamen dank geflüchteten Häftlingen, Satellitenbildern und herausgeschmuggelten Regierungsdokumenten immer mehr Zeugnisse der chinesischen Verbrechen an die Öffentlichkeit. Seit 2017 sollen fast
2 Millionen der 18 Millionen Uigurinnen und Uiguren in Konzentrationslagern gefangen gehalten, systematisch gefoltert und versklavt worden sein. Michelle Bachelet hatte jahrelang mit der chinesischen Staatsführung über eine Reise nach Xinjiang verhandelt. In diesem Mai durfte sie endlich einreisen. Für acht Tage. Gemäss Uno-Recht legte sie ihre Schlussfolgerungen vor der Veröffentlichung den Chinesen vor, in der Hoffnung, die Situation in Xinjiang etwas zu verbessern. Die Reaktion Pekings war ein Gegenbericht von 131 Seiten. Inhalt: Das Uno-Dokument sei eine reine Lüge. Ich kenne und bewundere Michelle Bachelet in ihrer täglichen Arbeit. Sie ist voller chilenischer Lebensfreude, blitzgescheit und temperamentvoll. Die Familie Bachelet gehörte zu den Opfern des Putschisten Augusto Pinochet. Ferngesteuert vom damaligen US-Aussenminister Henry Kissinger, liess er 1973 den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende und Tausende von dessen Anhängerinnen und Anhängern umbringen. Alberto Bachelet, ein Luftwaffengeneral, starb an den Folgen der Folter, seine Witwe und seine Tochter Michelle flohen ins Exil nach Ostberlin. Nach dem Fall des Diktators Pinochet 1988 wurde die unbeugsame Sozialistin Michelle für zwei Amtszeiten zur Präsidentin der Republik gewählt. Uno-Generalsekretär António Guterres ernannte sie 2018 zur Hochkommissarin für Menschenrechte.
CHINA SCHWÄCHEN. Wie kann der chinesische Völkermord gestoppt werden? Den Bachelet-Bericht muss nun der Uno-Menschenrechtsrat in seiner kommenden Herbstsession behandeln und eine permanente Kommission zur Überwachung der Menschenrechte in Xinjiang einsetzen. Das wird die chinesische Diplomatie zumindest schwächen. Die Schweiz muss im Rat für eine Verurteilung Chinas stimmen. Der Bundesrat kann aber noch mehr tun: Internationale Firmen, auch mit Sitz in der Schweiz, profitieren von der Sklavenarbeit uigurischer Arbeiterinnen und Arbeiter in den Industriebetrieben von Xinjiang. Unser Land sollte deshalb sofort den Freihandelsvertrag mit China kündigen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam diesen Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.