Andreas Rieger
Wie viele Male ist die EU totgesagt worden! Von US-Präsident Donald Trump, von der französischen Ultranationalistin Marine Le Pen, von SVP-Führer Christoph Blocher, von unserem Nationaldichter Thomas Hürlimann. Und nun stellt man fest: Mit der EU ist auch in Zukunft zu rechnen. Hauptgrund dafür: Wirtschaftlich und gesellschaftlich sind die Länder Europas unterdessen sehr zusammengewachsen, das gibt Kitt. Deshalb gilt: Wer die Lebensbedingungen der 500 Millionen Menschen auf dem alten Kontinent, aber auch im eigenen Land, verbessern will, muss die Politik der EU beeinflussen. Nur Grössenwahnsinnige wie die britische Premierministerin Theresa May oder die Schweizer Auns glauben, ihrem Land gehe es ohne EU besser.
UNVERBINDLICH. Wohin sich die EU entwickelt, ist jedoch offen. Nach 2010 ist sie die tiefe Wirtschaftskrise grundfalsch angegangen. In der Flüchtlingskrise ist sie mangels Solidarität gescheitert. Diese Schwäche hat der äusseren Rechten Raum gegeben und die EU-Politik zusätzlich gelähmt. Nach der Wahl in Frankreich ist es aber durchaus möglich, dass die EU wieder einen Zacken zulegt. Fragt sich bloss, in welche Richtung?
Der Kampf um die Ausrichtung der EU geht weiter.
Die EU-Kommission hat eine Diskussion über die Zukunft eröffnet. Weiter mit der Deregulierungspolitik und dem Wettbewerb aller gegen alle? Gemeinsame Wirtschaftspolitik mit einem gemeinsamen Budget? Ein Paket für die Förderung der sozialen Rechte, eine «soziale Säule» für Europa? Dazu hat die EU-Kommission vor kurzem einen Katalog gutgemeinter, aber unverbindlicher Vorschläge gemacht. Bloss einer soll verbindlich werden: ein Vaterschaftsurlaub von mindestens 10 Tagen und ein Mutterschaftsurlaub von wenigstens 16 Wochen. Dieser Punkt wäre zwar für einige Länder, auch für die Schweiz, ein Fortschritt. Aber eine «soziale Säule» für Europa ist der Katalog noch nicht. Erich Folgar, Präsident der österreichischen Gewerkschaften, kritisiert: «Unverbindliche Grundsätze haben wir bereits genug in der EU.» Der Kampf geht also weiter. Nicht für oder gegen die EU, sondern um ihre Ausrichtung.
Andreas Rieger ist Unia-Sekretär und vertritt den SGB im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB).