In Katar sind viele Hausangestellte ihren Chefinnen und Chefs noch immer ausgeliefert. Maria Saul* hilft diesen Frauen – und erzählt von ihren Schicksalen.
KAUM BEACHTET: Eine migrantische Hausangestellte folgt ihrer Chefin in Katars Hauptstadt Doha. (Foto: ALAMY)
In knapp einem Monat wird die Fussballweltmeisterschaft in Katar angepfiffen. Doch Jubel löst die Gastgeberin bisher nicht aus (siehe Spalte rechts). Stattdessen macht das Land mit haarsträubenden Arbeitsbedingungen von sich reden: Lohnrückstände, Verhaftung und Ausschaffung von Protestierenden, beschlagnahmte Pässe, desolate Unterkünfte, tödliche Hitze (work berichtete: rebrand.ly/toedliche-sonne). Die Situation für die ausschliesslich migrantischen Arbeiterinnen und Arbeiter verbessert sich bislang nur zögernd. Besonders für Frauen ist die Lage mehr als prekär. Gewalt, Missbrauch und sexuelle Übergriffe sind für viele Hausangestellte die Realität. Gewerkschaften sind in Katar nach wie vor verboten. Trotzdem organisiert Maria Saul* eine der migrantischen Gemeinschaften im Land – und kennt die Probleme aus erster Hand.
Frauen, die in privaten Haushalten arbeiten, sind ihren Arbeitgebern ausgeliefert. «Wenn du einmal in die Hände eines missgünstigen Chefs gelangst, befindest du dich in einem fast aussichtslosen Teufelskreis», sagt Saul. Erst kürzlich bat eine Hausangestellte um Hilfe. Ihr Chef missbrauchte sie sexuell. Zudem wurde sie eingeschüchtert und erpresst. Verzweifelt suchte die Arbeiterin nach Auswegen: sie zeigte den Arbeitgeber an und kümmerte sich um einen Jobwechsel. Mit viel Mühe fand die Hausangestellte eine neue Stelle, doch kurz bevor sie diese antreten konnte, entzog ihr missbräuchlicher Arbeitgeber ihr die Arbeitsbewilligung. Sie stand vor dem Nichts. Vergeblich versuchte sie, ihr Arbeitsvisum zurückzuerlangen. Doch das kann mehrere Monate dauern, was sich die Hausangestellte nicht leisten konnte. Deshalb musste sie Katar verlassen und arbeitet heute in Dubai.
Viele erleben sexualisierte Gewalt.
ERSATZFAMILIE
Saul sagt: «Viele Frauen in Katar arbeiten hier, um ihren Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Eine Mutter lässt vieles über sich ergehen, damit es ihren Kindern gutgeht.» Als sogenannte Community-Leaderin ist sie das Sprachrohr der Arbeiterinnen gegenüber den Behörden. Saul klärt die Frauen über ihre Rechte auf, hilft ihnen aus prekären Lagen und organisiert Weiterbildungen. Auch in der Freizeit finden migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter in ihren Communities fast schon eine Ersatzfamilie. Es wird gemeinsam Sport getrieben, gekocht oder genäht. Solche Programme werden seit kurzem finanziell von der Unia unterstützt.
Sauls Tätigkeit ist erst möglich, seit die Internationale Bau-und-Holzarbeiter-Gewerkschaft (BHI) aufgrund der anstehenden Fussballweltmeisterschaft in Katar aktiv ist. Weil es keine lokalen Gewerkschaften geben kann, gibt es die Communities. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter aus verschiedenen Ländern gibt es eigene Gruppierungen – zum Beispiel eine philippinische Community oder eine indische. Auch Gruppen aus Bangladesh, Ghana oder Indonesien und weiteren Ländern sind dabei. Die Leiterinnen und Leiter einer solchen Community tauschen sich aus und engagieren sich für die Rechte ihrer Mitglieder. Zudem werden sie vom Arbeitsministerium anerkannt und verhandeln mit den Behörden, um die Lage der Migrantinnen und Migranten stetig zu verbessern.
UM DEN LOHN GEPRELLT
«Das grösste Problem ist zurzeit die Lohnzahlung», sagt Saul. Viele Mitglieder ihrer Community beschweren sich über massive Zahlungsrückstände. Die Folgen sind laut Saul fatal: «Wenn der Lohn fehlt, können die Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Familien in ihren Heimatländern nicht unterstützen.» Teilweise warten die Arbeiterinnen bis zu ein Jahr auf ihren Lohn. Und wer gegen die fehlenden Löhne streikt, wird verhaftet und ausgeschafft. So erging es kürzlich fast 60 Arbeitern (work berichtete: rebrand.ly/verhaftete-arbeiter). Denn auch Streiks sind in Katar verboten.
Ein weiteres Problem sei der Jobwechsel, erklärt Saul. Die Situation der Arbeitsmigrantinnen und -migranten hat sich zwar gesetzlich auf diesem Gebiet verbessert, bei der effektiven Umsetzung hapert es aber weiterhin. Saul kennt auch hier tragische Schicksale, besonders Frauen werden erpresst und sexuell missbraucht. Denn wer die Stelle wechseln will, muss vom aktuellen Arbeitgeber mittels eines Formulars «freigegeben» werden. Maria Saul weiss aus Erfahrung: «Wenn die Chefin oder der Chef die Angestellte nicht gehen lässt, wird der Wechsel sehr schwierig.»
ERSTE VERBESSERUNGEN
Doch die Fussballweltmeisterschaft habe in Katar viel bewegt. «Vor der WM hatten Arbeitsmigrantinnen und -migranten praktisch gar keine Rechte», erinnert sich Saul. Besonders unter dem Kafala-System waren Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Chefs schutzlos ausgeliefert. In diesem System mussten Arbeitgeber für Arbeitsmigrantinnen und -migranten bürgen. Somit hatten sie die volle Kontrolle über ihre Angestellten. Diese wiederum hatten gar keine Rechte, ihnen wurde der Pass abgenommen, und ohne Erlaubnis des Chefs durften sie nicht nach Hause reisen oder den Job wechseln. Das Kafala-System wurde in Katar 2017 gelockert, ist aber in vielen arabischen Ländern weiterhin gang und gäbe, zum Beispiel in Libanon oder den Arabischen Emiraten.
Eine weitere Verbesserung ist die Einführung eines Mindestlohnes von 1000 Rial (275 Franken) pro Monat. Auch haben Arbeiterinnen und Arbeiter in Katar ein Anrecht auf einen freien Tag pro Woche. Wegen der unerträglichen Hitze pausiert die Arbeit draussen im Sommer von 10 bis 15 Uhr. Mittlerweile gibt es auch diverse Anlaufstellen für Beschwerden, an die sich die Arbeiterinnen und Arbeiter wenden können. Zudem dürfen sie jederzeit und ohne Bewilligung der Arbeitgeber nach Hause reisen.
Die Präsenz und das Engagement der Gewerkschaften in Katar verbessert die Situation laufend. Wie es nach der WM weitergeht, ist ungewiss: «Wir haben grosse Hoffnung, dass die Arbeitsgesetze erhalten bleiben», sagt Saul. Die BHI kündigte an, noch für mindestens zwei Jahre in Katar aktiv zu bleiben.
Was danach mit den Arbeiterinnen und Arbeitern geschieht, macht Maria Saul Sorgen.
*Name geändert