Eigentlich ist Raphaël Thiémard bei der Unia Gewerkschafter für die Uhrenindustrie. Doch jetzt ist er auch in einem Spielfilm zu sehen. work hat ihn gefragt, wie es dazu gekommen sei.
SCHIKANEN: Raphaël Thiémard muss in seiner Rolle als anarchistisch gestimmter Uhrmacher untendurch. (Foto: Screenshot Unrueh)
work: Raphaël Thiémard, wie sind Sie überhaupt zu einer Rolle als Darsteller im Film «Unrueh» von Cyril Schäublin gekommen?
Raphaël Thiémard: Regisseur Schäublin suchte im Jahr 2019 nach Uhrmachern für einen Film über den Anarchismus in der Uhrenindustrie im Jura Ende des 19. Jahrhunderts. Ich habe Schäublin daraufhin kontaktiert, und wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Es ist dies übrigens eine sehr spannende Epoche, sowohl, was die Industrialisierung des Uhrmacherhandwerks, als auch, was die Entwicklung der politischen Ideen betrifft.
Sie spielen den Uhrmacher Michel Droz, der wegen seiner anarchistischen Einstellung schikaniert und diskriminiert wird. Hatten Sie schon Erfahrungen mit der Schauspielerei?
Ich bin von Beruf Uhrmacher und von der Ausbildung her spezialisiert auf alte Uhrwerke. Die technische Seite, die der Film sehr eingehend zeigt, ist mir also gut vertraut. Aber ich hatte zuvor noch nie eine Rolle in einem Film gespielt.
Da muss es auf dem Set sehr interessant für Sie gewesen sein. Schildern Sie uns doch, was Sie so erlebt haben.
Regisseur Schäublin arbeitet nicht nur mit Profis, sondern gerne auch mit Laien. Er kennt viele Tricks und Methoden, damit man vor der Kamera das Beste gibt. Vor allem versteht er es sehr gut, Situationen zu schaffen, in denen man sich so verhält wie im normalen Leben, also ganz natürlich. Wie im Film zu sehen ist, zeichnet ihn eine Eigenheit besonders aus: Auf originelle Weise mischt er gekonnt das Französische und das Schweizerdeutsche, manchmal sogar im selben Dialog. Dies schafft im Film eine unglaublich authentische Atmosphäre.
«Sie hatten einfach begriffen, woher die Unterdrückung der Arbeiterklasse kommt.»
Anarchistische Ideen konnten sich ausgerechnet unter den Uhrenarbeiterinnen und Uhrenarbeitern im Jura stark ausbreiten. «Unrueh» von Cyril Schäublin – selber Nachfahre einer Uhrmacherfamilie – zeigt diese Situation in grossen Bildern. Was hat Sie am meisten beeindruckt?
Beeindruckend ist natürlich, dass die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter ein derart starkes Klassenbewusstsein entwickeln konnten. Wie man im Film sehen kann, pflegten sie sogar die internationale Solidarität. Sie waren pazifistisch und antiautoritär ausgerichtet. Im Grunde hatten sie einfach begriffen, woher die Unterdrückung der Arbeiterklasse kommt.
Raphaël Thiémard
Vom Anarchismus hört und sieht man aber nicht sonderlich viel. Wohl ist Piotr Kropotkin, einer der Protagonisten des Anarchismus im
19. Jahrhundert, im Film eine Hauptfigur. Aber er sagt nur wenig und erscheint eher in der Rolle des faszinierten Beobachters.
Die Leute in den Uhrenateliers waren eben keine Ideologen. Sie sahen, wie sich die Welt um sie herum veränderte, wie ihre Berufe, ihr Handwerk und auch ihre Dörfer immer mehr in den Sog der Industrialisierung und des kapitalistischen Profitstrebens gerieten. Und das geschah stets so, dass die Patrons die grossen Gewinner waren. Daher organisierten sie sich. So wurden sie schliesslich zu politischen Akteuren.
«Unrueh» ist im Dekor der damaligen Zeit gedreht: die Fabrikhalle, die Beiz mit den Absinth-Trinkern, die Arbeiterinnen mit langen Röcken und hochgesteckten Frisuren, der Direktor im Frack, die Dampflok am Bahnhof. Doch ging es dem Autor auch um Bezüge zur Gegenwart. Worin sehen Sie die Botschaft dieses Werks?
Es ist offensichtlich, dass es bei diesem Film nicht nur um die Vergangenheit geht. In mehreren Szenen wird geschildert, wie die Arbeiterinnen und Arbeiter im Alltag erniedrigt werden. Unter dem System der Ausbeutung, das in den Fabriken errichtet wurde, wurden sie wie Kinder behandelt, so dass sie sich diesem Regime unterwarfen. 150 Jahre später hat sich nicht viel geändert. Das System ist noch dasselbe, und es funktioniert noch immer gleich.