Jean Ziegler
Die Schweiz ist ein faszinierendes, hin und wieder merkwürdiges Land. Davon zeugte die erste Intervention der helvetischen Uno-Botschafterin Pascale Baeriswyl im Uno-Sicherheitsrat am 1. Januar. Der Rat tagte in einer ausserordentlichen Dringlichkeitssitzung. Einziges Traktandum: die jüngsten Menschenrechtsverletzungen der israelischen Regierung, insbesondere die völkerrechtswidrige Provokation des neuen Sicherheitsministers Itamar Ben-Gvir am 30. Dezember. Er war unter massivem Polizeischutz auf den Tempelberg und den Vorplatz der Al-Aksa-Moschee gekommen. Damit demonstrierte er die Herrschaft der Besatzungsmacht auch über diese zweitheiligste Stätte der Muslime. Nach ihrem Glauben war der Prophet Mohammed von dort in den Himmel aufgestiegen, um von Gott die heilige Schrift des Korans offenbart zu erhalten.
EDA-Generalssekretär Markus Seiler manipuliert den überforderten Aussenminister Ignazio Cassis.
STAATSTERRORISMUS. Richard Falk, Ex-Sonderberichterstatter des Uno-Menschenrechtsrates und neben Noam Chomsky der wohl prominenteste jüdische Intellektuelle der USA, bezeichnet Israels Strategie in den besetzten palästinensischen Gebieten als Staatsterrorismus. Israel foltert systematisch politische Gefangene, erschiesst Verdächtige und bombardiert periodisch das überfüllte Ghetto von Gaza. Die fortschreitende Kolonisierung wird befördert durch Landraub und Plünderung der Grundwasserreserven.
Die Intervention von Botschafterin Baeriswyl dauerte genau zweieinhalb Minuten. Klug, klar und präzis verurteilte sie die israelische Politik. Dabei stimmen die Botschafterinnen und Botschafter im Sicherheitsrat nicht nach freiem Willen, sondern nach Instruktion ihrer jeweiligen Regierung ab. Baeriswyls Intervention sind intensive Gespräche mit Bundesbern vorausgegangen. Dabei war allen bewusst, dass die Schweizer Verurteilung eine offensichtliche Heuchelei ist.
KOMPLIZEN. Die Schweiz betreibt eine intensive Rüstungszusammenarbeit mit der israelischen Armee. Gemeinsam entwickeln sie hocheffiziente Kampfdrohnen. Die Schweiz integriert sie in die eigene Luftwaffe, Israel nutzt sie zur Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung.
Wie ist diese Komplizenschaft mit der israelischen Besatzungsmacht möglich? Einer der Hauptverantwortlichen ist Markus Seiler, der Generalsekretär des Aussendepartements. Der ehemalige Chef des Nachrichtendienstes manipuliert den überforderten Aussenminister Ignazio Cassis. Der pensionierte Botschafter Georges Martin nannte ihn einmal in einem Interview den «Rasputin» im Bundeshaus.
Die Heuchelei ist unseres Landes unwürdig. Die israelisch-schweizerische Waffenproduktion – und damit unsere Nähe zu der schrecklichen Repression des palästinensischen Volkes – ist eine Schande für die Eidgenossenschaft.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam letzten Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.