Im Vallée de Joux wurde 1990 die Frauenstreik-Idee geboren. Jetzt herrscht wieder Streiklaune. Uhrenarbeiterin Cathy Dematraz (53) erklärt, warum – und welche Rolle dabei der Mittwochnachmittag spielt.
UHRENARBEITERIN CATHY DEMATRAZ SAGT’S DEUTLICH: «Der 14. Juni muss gross werden. Alle müssen auf die Strasse! Auch die Männer sind herzlich eingeladen, sich zu engagieren!» (Foto: Henrik Olofsson)
Schon allein mit ihrer lila Haarpracht bringt Cathy Dematraz (53) Frauenstreiklaune ins Vallée de Joux, dieses nebelgraue Hochtal im Jura. «Der Frauenstreik ist hier geboren», sagt die Uhrenarbeiterin stolz. Und sie hat völlig recht: Hier in der peripheren Uhrengegend keimte vor 32 Jahren erstmals die Idee zum Frauenstreik. Heute noch ist der historische Streik ein wichtiger Bezugspunkt der Jurassierinnen und Jurassier. Denn in der heimischen Uhrenindustrie gibt es immer noch krasse Missstände.
«Ungerechtigkeit habe ich noch nie ertragen können.»
SCHWANGERE UNERWÜNSCHT
Frauen verdienen im Schnitt fast 25 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Und Uhrenarbeiterin Dematraz sagt sogar: «In unserer Branche geht es rückwärts statt vorwärts! Zudem kommen ständig neue Anliegen hinzu, für die wir kämpfen müssen.» Besonders junge Arbeiterinnen werde im Beruf immer weniger Respekt entgegengebracht.
Dematraz gibt ein Beispiel: «In der Uhrenindustrie haben Frauen Angst, wenn sie schwanger sind.» Denn wer schwanger werde, habe danach grosse Schwierigkeiten, beruflich weiterzukommen. «Mütter, die Teilzeit arbeiten wollen, wird die Pensenreduktion nicht bewilligt oder nur befristet», doppelt Dematraz nach. Dass es rückwärtsgehe, zeige etwa der Mittwochnachmittag: «Früher bekamen Mütter an den schulfreien Nachmittagen frei, um sich der Kinderbetreuung zu widmen. Das gibt es jetzt nicht mehr.»
Dematraz zählt weitere Missstände auf: «Sexuelle Belästigung, Mobbing und Diskriminierung sind keine Seltenheit!» Sofortiger Handlungsbedarf bestehe bei den Löhnen: «Da beträgt der Unterschied zwischen Frauen und Männern 1000 Franken oder mehr – im Monat!» Eigentlich sei das ja beschämend für eine Industrie, die stolz sei auf ihre Schweizer Luxusprodukte. Tatsächlich wachsen die Gewinne der grossen Hersteller Jahr für Jahr, die Löhne aber stagnieren. Dazu Dematraz: «Ich kenne Frauen, die arbeiten schon über 20 Jahre im Betrieb und verdienen trotz immenser Berufserfahrung nur 4200 Franken im Monat.»
Doch jetzt sei genug: «Der Frauenstreik am 14. Juni ist nötiger denn je!» Und Dematraz ergänzt: «Das sind wir unserer Vorkämpferin Liliane schuldig!»
«In unserer Branche verdienen Männer 1000 Franken mehr als Frauen!»
GROSSE FUSSSTAPFEN
Wer sich die Probleme der Uhrenarbeiterinnen anhört, fühlt sich in der Zeit zurückgeworfen. Und hier kommt «Vorkämpferin Liliane» ins Spiel. Gemeint ist die 2019 verstorbene Liliane Valceschini. In einem Interview mit work verriet sie einst: «Mich hat vor allem die Situation bei uns im Tal aufgerüttelt. Ungerechtigkeiten habe ich noch nie ertragen können» (nachlesen auf rebrand.ly/liliane). Es war im Jahr 1990. Frauen hatten weder ein Recht auf eine Mutterschaftsversicherung noch auf einen straflosen Schwangerschaftsabbruch. Und wenn eine Arbeiterin schwanger wurde, hatte sie zwar einen Kündigungsschutz, aber keine garantierte Lohnfortzahlung. All diese Umstände diskriminierten die Frauen massiv, obwohl der Gleichstellungsartikel seit 1981 in der Bundesverfassung stand. Für Valceschini war diese Situation unerträglich. Aber auch das ewige Warten auf Gleichberechtigung war ihr zuwider. Nach hitzigen Diskussionen mit Gewerkschaftskolleginnen über die unfairen Löhne kam ihr plötzlich die zündende Idee: «Ich realisierte, dass es bald genau zehn Jahre her sein würde, seitdem am 14. Juni 1981 die Lohngleichheit in der Bundesverfassung festgeschrieben worden war. Zehn Jahre sind ein runder Geburtstag. Und einen solchen feiert man!» Und warum nicht mit einem Streik?
Valceschini traf sich mit Christiane Brunner, der umtriebigen Gewerkschaftssekretärin und künftigen Präsidentin des SMUV, einer Vorgängerorganisation der Unia. Und dann traten die beiden eine Bewegung los, die bald Geschichte schreiben sollte: den ersten landesweiten Frauenstreik!
«ALLE MÜSSEN AUF DIE STRASSE!»
Zurück ins Vallée de Joux von heute, wo Dematraz über den kommenden Streik spricht. Mit Blick auf den 14. Juni und die Verhandlungen für einen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in der Uhrenbranche lancierte die Unia eine Umfrage. Sie will von den Arbeiterinnen wissen, was ihre dringendsten Themen sind. Das Resultat steht noch aus. Doch Dematraz ahnt schon jetzt, wo der Schuh drückt: «Sexuelle Belästigung, Mobbing, Lohngleichheit und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.»
In der Uhrenindustrie arbeiten rund 45 Prozent Frauen. Unia-Sekretärin Nicole Vassalli bereitet sich zurzeit auf die GAV-Verhandlungen vor und sagt klar: «Wir fordern faire und gleiche Löhne. Bei der Gleichstellung muss endlich etwas gehen.» Auch Schwangere müssten besser geschützt werden. Es dürfe kein Druck ausgeübt werden, die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach dem Mutterschaftsurlaub müsse gesichert und Teilzeitarbeit einfacher möglich sein.
Für Uhrenarbeiterin Dematraz sind diese Forderungen das mindeste. Denn für sie ist klar: «Der 14. Juni muss gross werden. Alle müssen auf die Strasse!» Und sie betont: «Auch die Männer sind herzlich eingeladen, sich zu engagieren!»
Frauenstreikzahl: 24,9 Prozent
verdienten Uhrenarbeiterinnen im Jahr 2020 im Mittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Der Lohnunterschied in der Branche ist damit sogar wieder gestiegen. 2018 lag er bei 24,4 Prozent.
Frauentag-Agenda Das läuft am 8. März
Basel:
12 bis 13.30 Uhr, Theaterplatz: Kundgebung und Unia-Aktion zur Frauenrechtlerin Clara Zetkin, die vor über hundert Jahren den 8. März mitinitiiert hat.
Clara Zetkin. (Foto: Pd)
Bern:
14 Uhr, Bahnhofplatz: Stand des feministischen Streikkollektivs. 18 Uhr: Demo (unbewilligt). 20.30 bis 23 Uhr, Marta, Kramgasse 8: Feministische Party für Frauen, intergeschlechliche, trans und agender Personen.
Luzern:
15 Uhr, Vögeligärtli: Kundgebung der Unia im Bündnis mit anderen Organisationen.
Schaffhausen:
17.15 Uhr, Fronwagplatz: Demo. 18.30 Uhr, Bachturnhalle: «Frau, Leben, Freiheit – Frauen in Iran». 19.30 Uhr Apéro mit iranischen Häppchen. 20.30 Uhr: Theater «Ausbrauchen». Organisiert vom Frauenstammtisch Schaffhausen.
Solothurn:
19.30 Uhr, KreuzKultur, Kreuzgasse 4: Spielfilm «The Hill Where Lionesses Roar». Regisseurin Luàna Bajrami zeigt ihren Blick auf Kosovo, das sie als Kind verlassen hat.
St. Gallen:
16 bis 18 Uhr, Bärinnenplatz: Frauenbar. 17.30 Uhr, Kornhausplatz: Demo. 18.30 Uhr, Lagerhaus, Davidstr. 42: «Frauen – Frieden – Sicherheit», Bar, Referate, Disco. Organisiert vom Komitee 8. März St. Gallen.
Winterthur:
19 Uhr, Steinberggasse: Demo von 8mrzunite.ch.
Zürich:
7. März, 19 Uhr, Volkshaus: Unia-Podiumsdiskussion «Diskriminierung in der Arbeitswelt». Mit Unia-Aktivistinnen aus der Tieflohnbranche und Politikerin und Fussballerin Sarah Akanji. Anmelden unter rebrand.ly/uniapodium
11. März, 13.30 Uhr, Münsterhof: Demo von 8mrzunite.ch.
Die Schweizer Volksmusik ist verstaubt und voller alter Rollenbilder. Jetzt stimmt ein Nidwaldner Frauenchor ganz neue Töne an – und sorgt damit für grosses Aufsehen.
Begrapscht, belästigt und viel zu oft nicht ernst genommen: Jetzt zeigt eine Studie das Ausmass von sexueller Belästigung in Schweizer Spitälern und Altersheimen.