Andreas Rieger
Welche Riesenüberraschung war der Wahlausgang in Grossbritannien! Alle hatten die linke Labourpartei unter Jeremy Corbyn als Loser abgestempelt. Sein Programm stamme aus der Mottenkiste des Sozialismus, spotteten Journalisten, auch in Schweizer Medien. Die konservative Premierministerin Theresa May meinte, sie könne in der Wahl haushoch gewinnen, indem sie die nationale Frage ins Zentrum setze, ein starkes Grossbritannien markiere und Labour versenke.
LEBENSLAGE. Aber diesmal ging es nicht um die Ausländer und gegen Brüssel wie bei der Abstimmung über den Brexit vor einem Jahr. Die Wahlkampagne von Labour brachte die sozialen Themen in den Vordergrund: die heruntergekommenen Gesundheits- und Verkehrswesen, die verdreifachten Studiengebühren, die schwierige Lage der Pensionierten und der Arbeitenden. Philipp Jennings von der internationalen Gewerkschaft UNI sagt: «Die Mehrheit der Briten verdient heute weniger als 2008. Millionen arbeiten in prekären Verhältnissen. Eine Million mit Verträgen, die null Arbeitsstunden garantieren. Gesamtarbeitsverträge gibt’s im privaten Sektor kaum mehr. Kein Wunder, grassiert allgemeines Lohndumping.»
ALLES OFFEN. Corbyns Wahlprogramm antwortete ganz konkret auf diese Probleme: Es verlangt eine Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes. Eine Ausweitung der Gesamtarbeitsverträge. Ein Verbot der Null-Stunden-Verträge und des Lohndumpings. Eine Senkung der Ausbildungskosten. Die Verstaatlichung der privatisierten Bahnen. Und so weiter.
Damit war Labour bei den Leuten, dafür mobilisierten sich Jüngere wie noch nie. So gewann Labour Arbeiterstimmen zurück. Und die Konservativen von Theresa May tauchten. Jetzt ist politisch in Grossbritannien alles wieder offen.
Andreas Rieger ist Unia-Sekretär und vertritt den SGB im Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB).