Jean Ziegler
Der deutsche Ex-Bundeskanzler Willy Brandt war dreizehn Jahre lang Präsident der Sozialistischen Internationale. Uns damals Junge im Exekutivrat hat er gemahnt: «Friede ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.»
Der Waffenstillstand in der Ukraine wird eines Tages Realität werden. Einmal wird das anhaltende Morden, das Verstümmeln von Hunderten Menschen ein Ende finden. Und dann beginnt das Ringen um einen dauerhaften Frieden, um Wiederaufbau und kollektive Sicherheit. Wie werden Friedensverhandlungen verlaufen? Auch hier sind sichere Antworten zurzeit unmöglich.
Mit einer radikalen Erneuerung ihrer Charta könnte die Uno aus der Lähmung befreit werden.
UNSELIGES VETORECHT. Sicher ist nur eines: ohne eine radikale Reform der Uno-Charta wird es keinen dauernden Weltfrieden geben. Die Weltorganisation soll gemäss dem Kapitel 7 ihrer Charta die kollektive Sicherung des Friedens garantieren. Doch sie ist vollständig gelähmt. Unter den 15 Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates, der Exekutive der Organisation, besitzen fünf permanente Mitglieder ein Vetorecht. Es sind dies die fünf Siegerstaaten des Zweiten Weltkrieges: Frankreich, Russland, die USA, China und Grossbritannien. Nur wenn diese fünf Staaten einstimmig votieren, kann die Uno tätig werden. In der Ukraine gibt es heute keine von Blauhelmen überwachten Waffenstillstandslinien, keine humanitären Korridore, kein Verbot militärischer Flugzeuge über Wohnquartieren. Das russische Veto – seit Februar 2022 bereits elfmal eingesetzt – lähmt jede Uno-Initiative für die Ukraine.
Artikel 110 der Charta sieht die sogenannte Reformkonferenz vor. Wenn zwei Drittel der Generalversammlung oder ein Drittel des Sicherheitsrates dies verlangen, wird die Konferenz einberufen. Der kluge Kofi Annan hinterliess bei seinem Ausscheiden aus dem Generalsekretariat 2006 ein politisches Testament, in dem er einen Weg aus der Lähmung der Uno zeigt: in Zukunft soll das Vetorecht ungültig sein in Konflikten, die durch Aggressionskriege, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgelöst wurden.
REFORM. Die Schweiz wurde vergangenes Jahr mit einem Glanzresultat – ohne Gegenstimme, bei vier Enthaltungen – von der Uno-Generalversammlung für zwei Jahre als nichtpermanentes Mitglied in den Sicherheitsrat gewählt. Während zweier Sessionen wird sie den Rat präsidieren. Die Schweiz hat einen ausgezeichneten Ruf in der Uno. Ihre Diplomatinnen und Diplomaten sind respektiert. Ihre eindrückliche Arbeit wird zwar hier in der Schweiz kaum zur Kenntnis genommen. In New York jedoch ist ihr Einfluss beachtlich.
Gelingt mit Hilfe unseres Landes die Einberufung der Reformkonferenz und dann die Reform des Sicherheitsrates, wird die Uno von ihrer Lähmung befreit. Die multilaterale Diplomatie als Mittel zur Schaffung eines dauerhaften, gerechten und gesicherten Friedens in der Ukraine würde damit zu einem konkreten, realistischen Projekt.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam letzten Frühling als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.