Die streikenden LKW-Fahrer von Gräfenhausen haben den niederländischen Gewerkschafter Edwin Atema zu ihrem Verhandlungsführer bestimmt. Im work-Interview erklärt er, wie es zum Sieg kam – und warum neue Streiks schon bald folgen könnten.
SIEG! Nach fünf Wochen Streik können die rund 65 LKW-Fahrer aus Georgien, Usbekistan und Tadschikistan edlich feiern. (Foto: Keystone)
work: Die osteuropäischen Trucker haben sich auf ganzer Linie durchgesetzt – nach fünf Wochen Streik auf der Raststätte Gräfenhausen bei Darmstadt. Wie sieht die Lösung genau aus?
Edwin Atema: Die Fahrer haben jeden geforderten Euro erhalten, total 303’363 Euro und 36 Cent. Und: Die Transportfirma Mazur lässt alle Anklagen gegen sie fallen. Das war für die streikenden Trucker fast ebenso wichtig wie die Lohnzahlung.
TEAMARBEIT: Gewerkschafter Edwin Atema (links) mit einem streikenden LKW-Fahrer. (Foto: Keystone)
Wie haben sie das geschafft?
Entscheidend war der Druck aus der Lieferketten. Die Fahrer haben alle Auftraggeber der Mazur-Gruppe aufgefordert einzugreifen. Ebenso die Unternehmen, deren Waren sie transportierten. Nur wenige haben überhaupt geantwortet. Auch mehrere Schweizer Unternehmen reagierten nicht. Die einzige ernsthafte Reaktion kam dann von General Electric (GE) im aargauischen Birr. GE brauchte dringend die Ladung von einem der Lastwagen. Das zeigt ganz klar die Prioritäten der Konzerne: Es interessiert sie nicht, dass 65 Fahrer ausgebeutet und ihre Rechte mit Füssen getreten werden. Erst als GE Druck machte, machte die Mazur-Gruppe vorwärts und der Konflikt wurde innerhalb von drei Tagen beigelegt.
Aus Sicht der Beschäftigten heisst das doch: Es braucht vor allem ökonomischen Druck, um etwas zu erreichen.
Das ist jedenfalls meine Schlussfolgerung. Die Unternehmen interessieren sich erst dann, wenn es um ihr Geld geht.
Welche Rolle spielte dann der öffentliche Druck?
Die öffentliche Aufmerksamkeit und die Solidarität waren der magische Hebel dafür, dass die Streikenden fünf Wochen ausgehalten haben. Jeder Streik ist anstrengend und belastend. Aber dies war ein informeller, «wilder» Arbeitskampf der prekärsten Beschäftigten Europas. Fünf Wochen das Fahrzeug und den Rastplatz nicht verlassen zu können, ist eine Extremsituation, die man sich kaum vorstellen kann. Die enorme Solidarität war fantastisch: von lokalen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern, die ein Barbecue veranstalteten, bis hin zu anderen Lastwagen-Fahrern, die anhielten, um den Streikenden Zigaretten zu bringen. Das wird keiner je vergessen. Das hat die Moral gestärkt und diesen Erfolg ermöglicht.
Lastwagenfahrer in Südkorea grüssen die streikenden Trucker in Gräfenhausen. Quelle: Twitter
Die Trucker in Gräfenhausen haben gezeigt, dass es möglich ist, sich unter schwierigsten Bedingungen zu organisieren und erfolgreich zur Wehr zu setzen. Erwarten Sie, dass sich andere ein Beispiel daran nehmen?
Was diese 65 Fahrer in Gräfenhausen getan haben, war mehr, als sich Hunderttausende in den westeuropäischen Ländern je getraut haben. Alle sehen, was in der Branche los ist und was sich ändern müsste. Aber nur wenige kämpfen dagegen an. Diese Prekärsten der Prekären haben es gemacht. Schon während des Streiks sind unsere Telefone heissgelaufen. Andere haben gesehen, dass es möglich ist, sich zu wehren. Deshalb erwarte ich einen heissen Sommer.
Diverse Politikerinnen und Politiker haben im Europäischen Parlament ihre Unterstützung für die Streikenden bekundet. Was müssen sie tun, um die Bedingungen in der Branche zu verbessern?
Wenn die bestehenden Gesetze eingehalten würden, hätte so etwas wie in Gräfenhausen gar nicht passieren können. Jetzt rufen alle: Wir brauchen neue Gesetze! Mir würden auch etliche Gesetze einfallen, die gemacht werden müssten. Aber wenn Gesetze in der Praxis nicht durchgesetzt werden, sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Das hat Methode. Die soziale Regulierung des Marktes hat in Europa keinerlei Priorität.
Die Streikenden von Gräfenhausen erwidern die Soli-Grüsse aus Südkorea. (Quelle: Twitter)
Welche Schlussfolgerungen sollten die Gewerkschaften ziehen?
Zugespitzt ausgedrückt: Das Kapital akzeptiert keine Grenzen, deshalb sollten das Gewerkschaften auch nicht tun. Für Lieferketten bestehen keine Grenzen. Beschäftigte werden von Firmen international angestellt und eingesetzt. Der Sieg in Gräfenhausen war nur möglich, weil wir im Strassentransport eine internationale Gewerkschaftsarbeit entwickelt haben, bei der man einander respektiert und sich nicht um Bürokratien schert. Internationale Strategien und Solidarität werden nicht nur auf Konferenzen und in Gremien geschaffen, die Zusammenarbeit in der Praxis ist der Schlüssel zum Erfolg.