Frankreich: Neun Wochen Streik beim Kinderausrüster Vertbaudet
Wer hat Angst vor Manon Ovion?

Vertbaudet verkauft Kleider, Möbel und Spielzeug für Kinder. Alles in Pastell, alles hübsch. Der Lohn der Lageris­tinnen war hingegen mies. Bis Streikführerin Manon Ovion der Geduldsfaden riss.

LAGERISTIN MANON OVION: «Der Lohn muss zum Leben reichen. Nur gerade irgendwie überleben ist zu wenig.» (Foto: Stéphane Dubromel)

Irgendwann ist auch für Manon Ovion, 30, genug. Eigentlich sei sie introvertiert, fast scheu, sagen die Kolleginnen. Nur wenn sie lacht, wirkt das, als habe jemand das Licht angeschaltet. Doch allzu sehr sollte man sie nicht reizen, sagt der Vater ihrer zweijährigen Tochter. Am 20. März war die Geduld von Manon Ovion definitiv erschöpft, sie trat an der Spitze von 83 Lagerarbeitenden im Logistikzen­trum des Vertbaudet-Konzerns in einen harten Streik. Es war die erste Arbeitsniederlegung der Firmengeschichte.

Hier arbeiten vor allem Frauen, viele alleinerziehende Mütter. Da schmerzt jeder Euro Lohn, den sie bei einem Ausstand verlieren. Dennoch haben sie zweieinhalb Monate durchgehalten. Als Ovion am 2. Juni aus den Marathonverhandlungen mit der Firmenleitung zum Streikpikett kam, reckte sie die Faust: Lohnerhöhungen zwischen 4 und 7 Prozent, je nach Dienstalter! «Ich wusste, dass wir am Ende gewinnen. Manchmal hilft eben nur Streik!»

Innenminister Gérald Darmanin schickte Robocops gegen die streikenden Frauen.

REBELLISCHER EIGENSINN

Vertbaudet verkauft Kleider, Spielzeug und mehr für Kleinkinder. Alles in Pastell, alles hübsch. Ursprünglich eine Familienfirma, heute unter Kontrolle eines internationalen Finanzfonds. Den interessiert allein die Rendite. Der Job der Frauen in Marquette-lez-Lille bei Tourcoing an der belgischen Grenze ist physisch hart, der Lohn mies. Eine Mehrheit verdient den gesetzlichen Mindestlohn, netto etwa 1280 Franken. Um 4 Uhr 45 ist Arbeitsbeginn der Frühschicht, die Pakete für den Versand und die Vertbaudet-Filialen müssen zeitig auf die Strasse. Schwierig, da ein Kind aufzuziehen, die Krippen und Schulen machen erst viel später auf. Manon Ovion kennt das gut, sie kommt aus einer Arbeiterfamilie, ihre Mutter arbeitet auch als Lageristin, in einer Firma nebenan. Erst 51jährig, hat die Arbeit sie an Beinen und Rücken geschädigt: «Sie hat sich für uns aufgeopfert.» Es sei gewiss kein Kindertraum gewesen, sagt Manon Ovion, dieser Job als Lageristin. Sie hat ihre Ausbildung Buchhalterin abgebrochen, um der Mutter beizustehen. Sie lacht: «Ich bereue nichts.»

KLASSE(N)-FRAUEN: Streikführerin Ovion mit CGT-Chefin Sophie Binet (rechts). (Foto: Sipa)

IM WÜRGEGRIFF

Wie sie das sagt, blitzt rebellischer Eigensinn auf. Der Gewerkschaft CGT ist sie beigetreten, nachdem ein Chef sie wegen einer WC-Pause schräg angemacht hatte. Es sei höchste Zeit gewesen, bei Vertbaudet eine richtige Gewerkschaft aufzubauen: «Die Mehrheitsgewerkschaften hier machen das Spiel der Firmenleitung mit.» Wie in diesem Frühjahr, als die Inflation die Tieflöhne zu Hungerlöhnen abschmolz. Benzin, Strom, Lebensmittel wurden beinahe unerschwinglich. Kino, Ausflüge, Coiffeur, Kleider, Ferien wurden gestrichen, in die Einkaufskörbe kamen nur noch Sonderangebote. Ovion sagt: «Wir Arbeiterfamilien kennen das, aber es kann nicht sein, dass man vom Lohn seiner Arbeit nicht mehr leben kann. Nur gerade irgendwie überleben ist zu wenig.» Doch die anderen Gewerkschaften unterschrieben einen Deal mit null Euro Lohnerhöhung, ohne Teuerungsausgleich, obschon der Vertbaudet-Finanzchef gerade einen zweistelligen Millionengewinn gefeiert hatte.

Streik ist nie ein Sonntagsspaziergang, dieser aber wurde ein besonders rauer Ritt. Nur etwa ein Drittel der Arbeitenden zogen mit. Die Firma drohte und täuschte. Innenminister Gérald Darmanin, der seine Karriere als Bürgermeister von Tourcoing begonnen hatte, schickte die Robocops. Dreimal räumten sie brutal das Streikpikett ab und verletzten dabei etliche Frauen. Im Würgegriff eines Flics verlor eine Fünfzigjährige beinahe das Leben. Ein maskiertes Kommando entführte einen CGT-Gewerkschafter vor den Augen seiner Kinder, schlug ihn zusammen und setzte ihn 10 Kilometer weiter wieder aus.

Ovions Mut brach dies nicht: «Sie dachten, uns einzuschüchtern. Doch es hat uns zusammengeschweisst.» Raffinerie-Arbeitende, Eisenbahner und diverse Belegschaften, die ebenfalls um höhere Löhne rangen, eilten zur Unterstützung herbei. Jean-Luc Mélenchon, der Kopf der linken Nupes, brachte seine «Bewunderung» mit und einen grossen Check für die Streikkasse.

EINE WELT GEWONNEN

So wurde der Vertbaudet-Streik zum nationalen Thema. Die frisch gekürte CGT-Chefin Sophie Binet machte ihre erste Dienstreise nach Marquette-lez-Lille: «Euer Kampf ist ein Emblem für die Situation der Frauen: prekäre Jobs, unmögliche Arbeitsbedingungen, die Kombination von Klassenverachtung und Sexismus.»

Am Ende haben die unterschätzten Vertbaudet-Frauen den Konzern niedergerungen – er musste die Löhne anheben, auf alle Massnahmen gegen die Streikenden verzichten. Manon Ovion und ihre Kolleginnen haben eine Welt gewonnen: «Wir haben gelernt, wozu wir fähig sind. Jetzt wird jede immer für jede andere einstehen. Früher haben wir uns über die Direktion genervt. Heute haben wir ein Kräfteverhältnis.»

Vielleicht reicht das Geld jetzt sogar für ein paar Tage Ferien. Ovion möchte mal nicht kochen, haushalten, einfach nur an der Sonne liegen. Zum Beispiel auf Kuba. In ihrem Kinderzimmer war der legendäre ­Revolutionär Che das einzige Poster. «Vielleicht im nächsten Leben», scherzt sie

1 Kommentare

  1. Peter Bitterli 2. August 2023 um 19:18 Uhr

    Was erzählt Fahrni hier? Frankreich hat fertig.

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