Vasyl Andreyev ist der Präsident der ukrainischen Baugewerkschaft Profbud. work hat ihn in Genf getroffen und gefragt, wie Gewerkschaftsarbeit im Krieg funktioniere und was für den Wiederaufbau wichtig sei.
UNGEWISSE ZUKUNFT: Bau-Gewerkschafter Andreyev hofft auf ein baldiges Ende von Krieg und Korruption. (Foto: Jean-Patrick di Silvestro)
work: Wie fühlt es sich an, jetzt hier am Genfersee zu sitzen?
Vasyl Andreyev: Es ist widersprüchlich. In den ersten Nächten konnte ich hier kaum schlafen. Denn in Kiew gibt es fast jede Nacht Fliegeralarm, weil die Stadt mit Raketen beschossen wird. Wenn ich hier in Genf in der Nacht einen Motor oder Autoalarm höre, denke ich immer an diese Sirenen. Und dann denke ich an meine Freundinnen und Freunde, die dort sind, und schäme mich ein bisschen.
Aber Sie haben doch gute Gründe, hier zu sein!
Ja, ich verbringe endlich wieder Zeit mit meiner Frau Anna und unserem sechsjährigen Sohn. Die beiden sind vor einem Jahr aus der Ukraine geflüchtet und leben jetzt im Kanton Genf. Anna arbeitet hier bei der Bau- und Holzinternationale. Doch der eigentliche Grund für meinen Besuch ist die Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), ich bin Mitglied der ukrainischen Delegation.
ANNA ANDREYEVA: Die Gewerkschafterin und Ehefrau von Vasyl Andreyev erzählte work über ihre Flucht aus Kiew. (Foto:work)
Der Krieg hat also Ihre Familie auseinandergerissen.
Am 24. Februar 2022 wurden wir nicht von unserem Wecker geweckt, sondern von den Explosionen draussen vor den Fenstern. Ich erinnere mich, wie unser Sohn durch das Zimmer rannte und fragte: «Ist das ein Feuerwerk?» Dann versteckte er sich hinter dem Sofa, und ich glaube, er hat sofort verstanden, dass dies der Beginn des Krieges war.
Bei der ILO-Konferenz ging es um den Wiederaufbau der Ukraine: Ist es nicht zu früh, schon jetzt den Wiederaufbau zu planen?
Tatsächlich übersteigt der Zerstörungsgrad alles, was ich in meinem Leben zuvor gesehen habe. Im Moment reden wir in der Ukraine mehr über den Sieg und den Frieden als über den Wiederaufbau und die finanziellen Fragen. Denn wir müssen uns weiterhin gegen einen grausamen Feind zur Wehr setzen. Die Schlacht ist noch nicht entschieden. Und dennoch ist die Planung des Wiederaufbaus heute schon wichtig.
«Die Schlacht ist noch nicht entschieden, trotzdem ist es wichtig, über den Wiederaufbau nachzudenken.»
Ist Gewerkschaftsarbeit im Krieg überhaupt noch möglich?
Es ist schwierig. Wir haben viele Mitglieder verloren. Zum Beispiel als die Krim im Jahr 2014 von Russland besetzt wurde, hatten wir auf einen Schlag 3000 Mitglieder weniger, und in den Bezirken Donezk und Luhansk verloren wir zusätzlich 5000. Leider mussten auch viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter flüchten, und nicht wenige haben ihr Leben an der Front verloren. Etwa zehn Prozent unserer Mitglieder wurden seit 2022 in den Armeedienst eingezogen. Das sind über 5000 Männer und Frauen. Und auch politisch ist es kompliziert.
Inwiefern?
Bis zum Beginn des Krieges konnten wir eine Liberalisierung des Arbeitsgesetzes erfolgreich verhindern. Doch im März 2022 trat ein neues Arbeitsgesetz in Kriegszeiten in Kraft, das die Position der Gewerkschaften enorm schwächte. Manchen Gewerkschaften und linken Parteien wurde auch ihre Nähe zur russischen Regierung zum Verhängnis. Und im Bausektor gab es einen starken Wandel: Viele der Unternehmen, mit denen wir gute Beziehungen hatten, gingen konkurs. Die neuen Unternehmen und ihre Besitzer wollten einen immer grösseren Teil des Kuchens.
Und konnte Ihre Gewerkschaft diesem Trend entgegenwirken?
Wir sitzen jetzt am längeren Hebel, weil das Angebot an qualifizierten Arbeitskräften immer knapper wird. Viele Männer wurden verletzt oder sterben weiterhin im Krieg. So gibt es jeden Tag weniger Arbeiter. Gleichzeitig besteht für den Wiederaufbau eine massive Nachfrage: Im Moment haben wir im Bausektor 150 000 Arbeitende, die Steuern und Sozialversicherungen bezahlen. Und dann schätzungsweise eine halbe Million Menschen, die ohne Arbeitsverträge, also informell, arbeiten. Nach dem Krieg werden wir wahrscheinlich doppelt so viele Arbeitskräfte für den Wiederaufbau benötigen. Unser Ziel als Gewerkschaft ist es, dass die Zahl der informellen Arbeiterinnen und Arbeiter deutlich sinkt.
Wie sollte der Wiederaufbau aus Ihrer Sicht ablaufen?
Wir gehen davon aus, dass die EU-Gelder für den Wiederaufbau auch an Aufträge an europäische Unternehmen gekoppelt sind. Es wird europäische Unternehmen geben, die in der Ukraine Arbeitskräfte einstellen. Die EU könnte die Unternehmen dazu verpflichten, nur formelle Arbeitskräfte einzustellen.
«Am 24. Februar 2022 weckte uns nicht der Wecker, sondern Explosionen draussen vor dem Fenster.»
Ein grosses Problem im Bausektor ist die Korruption …
Ja. Als die Euro-Fussballmeisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine stattfand, gab es Unternehmen aus Frankreich und Österreich, die versuchten, in die Ukraine zu kommen, aber die Korruption hat sie davon abgehalten. Ich denke, dass es jetzt mit der Ankunft internationaler Unternehmen eine starke Veränderung im Bausektor geben wird. Viele der bisherigen Unternehmen werden nicht in der Lage sein, diese Grossaufträge zu übernehmen.
Sie hoffen also, dass sich internationale Unternehmen ansiedeln werden?
Ja, diese könnten die Regeln in der Ukraine ändern. Eine Firma wie Strabag aus Österreich kann auch mit Milliardenaufträgen umgehen.
Was denken Sie, wird der Wiederaufbau kosten?
Die Regierung schätzt, dass der materielle Gesamtschaden bisher mindestens 300 Milliarden Euro beträgt. Die Schäden an der Infrastruktur sind enorm: Strassen und Brücken wurden zerstört, Eisenbahnen, die Strommasten und auch Wasserkraftwerke: Nicht nur der Kachovka-Damm, es gibt auch viele kleinere Dämme, die absichtlich zerstört wurden.
Gewerkschafts-Paar: Andreyev und Andreyeva
Vasyl Andreyev (43) ist seit 2010 Präsident der ukrainischen Baugewerkschaft Profbud mit über 50’000 Mitgliedern. Er hat in dieser Zeit zwei Revolutionen und einen Krieg miterlebt. Seine Frau Anna Andreyeva arbeitet bei der Internationalen Bau- und Holzgewerkschaft (BHI) und lebt seit Kriegsausbruch mit ihrem sechsjährigen Sohn in Genf.