Europa sabotiert das Recht auf Asyl, will unter Druck der Rechtsextremen die Migration beschränken. Und lenkt damit die Wut der Menschen über Klimakatastrophe und Sozialabbau auf die «Fremden» um.
SARA MARDINI: Die Schwimmerin flüchtete aus Syrien, rettete Schiffbrüchige vor dem Tod und engagierte sich als Helferin, dafür soll sie ins Gefängnis. Ihr Leben wurde verfilmt. (Foto: Filmstill «Gegen den Strom»)
Seit ihren Anfängen in Afrika ist die Menschheit in Bewegung. Mal fliehen Menschen vor Mord, Dürre, Krieg, Hunger. Mal sucht sich jemand mildere Gefilde für ein besseres Leben. Mal werden ganze Bevölkerungen in die Sklavenarbeit verschickt. So werden Verbrechen begangen, aber auch Zivilisationen begründet. Wanderung, zwischen Exil und Eldorado, ist unser natürlicher Zustand.
Doch jetzt nennt man das Migration, und sie wird zum scheinbar grössten Problem unserer Zeit hochgeredet. Wichtiger als die Auslöschung der menschlichen Gattung durch den kapitalistischen Raubbau an der Umwelt. Wichtiger als die explodierenden Ungleichheiten, der neu grassierende Rassismus oder die neoliberale Zerstörung der Demokratie.
Wieder soll gelten: Grenzen zu, und alles wird gut. Das behaupten zumindest rechtsextreme Vorbeter wie Renaud Camus, der in der französischen Provinz in einem Schlossturm lebt, allein mit einem Diener. Die reichen Nationen, so behauptet Camus, seien Ziel eines Komplotts von «Nichtweissen», vorab Muslimen, mit dem Vorhaben, die weisse Bevölkerung durch Einwanderung zu ersetzen. «Die grosse Auswechslung» («Verdrängung») nennt er das. Sämtliche Szenarien der Migrationsforschung aber zeigen: das ist blanker, rassistischer Unsinn. Heute leben weniger als vier Prozent der Weltbevölkerung nicht in ihrem Geburtsland. Übrigens auch 800 000 Schweizerinnen und Schweizer.
Eigentlich wäre der triste Camus keiner Rede wert. Nun ist die irre Theorie aber zur Bibel der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni, der französischen Rechtsextremistin Marine Le Pen, des ungarischen Herrschers Viktor Orbán aufgestiegen. Donald Trump hat Camus im Gepäck, und mit Camus’ Thesen haben die Ultrarechten Wahlen in Schweden, Finnland, Dänemark, Polen, in der Slowakei, in Griechenland gewonnen, bald wohl auch in den Niederlanden und Österreich. Der Mann wirkt längst über den braunen Sumpf hinaus. Unlängst bekannte sich Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin zu Camus. Am Thema Migration wird überall die neue Allianz zwischen Liberalen und Neofaschisten geschmiedet.
Die Migration dient als Kulisse für die Rückkehr der rassistischen Ideologie Nationalismus, die eben noch das blutigste Jahrhundert der Menschengeschichte angerichtet hat (zwei Weltkriege, Kolonialkriege, Shoa und Völkermorde, Faschismus, Apartheid usw.). Es gibt wohl zwei Gründe, den Ort zu verlassen, wo man (zufällig) geboren wurde: Die Suche nach Arbeit, die eine Familie ernährt, vielleicht der Wunsch nach einer erfolgreichen Karriere oder schlicht nach einem Anderswo (freie Niederlassung müsste ein Menschenrecht sein). Oder man flieht vor Repression, Krieg, Folter, Tod.
Die Migration dient als Kulisse für die Rückkehr der rassistischen Ideologie.
GROSSER SCHWINDEL
Auch die Schweiz war bis in die 1920er Jahre ein Auswanderungsland, ganze Massen entkamen dem wirtschaftlichen Elend nach Übersee.
Die scheinbar scharfe Unterscheidung – hier völkerrechtlich geschützte Flüchtlinge, dort die Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten – wird in der Tat immer undeutlicher. Wie sollte man zum Beispiel einem Menschen, dessen Existenz durch den steigenden Meeresspiegel vernichtet wurde, den Flüchtlingsstatus verweigern? Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Klimakatastrophe in wesentlichen Teilen von den reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung angerichtet wurde. Grosse Teile Bangladeshs etwa werden bald dem Meer zum Opfer fallen. Dann haben die 169 Millionen Bangalen kein Land mehr.
Bereits heute sind mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die das UN-Hochkommissariat (UNHCR) registriert, Umweltvertriebene. Derzeit sind so viele Menschen wie noch nie auf der Flucht – 108 Millionen. Doch fast zwei Drittel davon bleiben innerhalb ihrer Landesgrenzen, als «intern Vertriebene». Vom letzten Drittel wollte nur ein kleiner Teil zu uns – gerade 1 von 20 geflüchteten Frauen und Männern hat in Europa, in den USA oder anderswo im reichen Norden Asyl beantragt. Flucht und Wanderung finden vor allem zwischen Ländern des Südens statt. Die angeblichen «Asylantenströme» Richtung reiche Welt sind eine dumpfe Lüge (siehe «Zahlen» unten).
Verletzlich: Frauen unterwegs
Flucht und Migration verschärfen die Diskriminierung der Frauen. Dieser erste, grobe Befund der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist wenig überraschend. Wer fliehen muss oder anderswo eine neue Existenz aufbaut, ist verletzlich. Frauen erleiden häufiger sexualisierte Gewalt, der Zugang zu Papieren, Gesundheitsversorgung, Ausbildung, Jobs, Sozialhilfen ist ihnen oft stark erschwert. Mädchen sind in der Schule oft krass benachteiligt.
BEFREIUNG. Migrationsbiographien aber zeigen ein differenziertes Bild. So sind von Frauen geführte Haushalte nicht durchweg ärmer. Frauen sind kreativer bei der Organisation von Selbsthilfe und in der informellen Ökonomie (etwa beim Geldtransfer oder im Handel). Wo sie Zugang zu Schule und Uni haben, schneiden sie oft besser ab. Logisch: Die Befreiung aus patriarchalischer Unterdrückung ist ein wesentliches Flucht- und Migrationsmotiv von Frauen. Mehr zum Thema: iom.int/gender-equality.
Aber selbst einige Tausende Asylsuchende sind manchen schon zu viel, und der Schwindel vom Ansturm der Verfolgten dient rechter Politik. So lässt sich Panik schüren, was die Wut über Klimakatastrophe, Sozialabbau und die eigene Ohnmacht auf die «Fremden» umlenkt.
Als der syrische Krieg 400 000 Tote forderte, mussten auch die Olympiaschwimmerinnen Sara, 20, und Yusra Mardini, 17, fliehen. Eine Bombe hatte das Haus der Familie bei Damaskus zerstört. 2015 kauften sie sich Plätze auf einem Boot, das sie nach Griechenland bringen sollte. Es war mit 18 Menschen überfüllt. Motorschaden. Die Schwestern sprangen ins Wasser und zogen den Kahn schwimmend drei Stunden lang nach Lesbos. Später, im Berliner Exil, beschliesst Sara, an den Ort ihres Todeskampfes zurückzukehren, um zu helfen. Sie gibt Kindern Schwimmunterricht. Doch dann verhaften sie fünf griechische Polizisten, wegen «Spionage» und «Menschenschmuggels». 25 Jahre Haft drohen … (Saras Schicksal wurde seither verfilmt).
Kein Mensch riskiert sein Leben, weil er weiss, dass auf der anderen Seite vielleicht eine Sara Mardini mit der Wasserflasche steht. Die griechischen Polizisten und Militärs wollen bloss keine Zeugen, wenn sie Menschen in Not daran hindern, einen Asylantrag zu stellen und sie in den Tod zurückschicken. Für jene, die es schaffen, oft erst beim 10. oder 12. Versuch, hat die EU auf den Inseln hochgesicherte Abschiebelager gebaut.
Schon heute sind die Hälfte aller Geflüchteten Umweltvertriebene.
ANGRIFF AUF DIE MENSCHENRECHTE
Bei jedem Konflikt, jeder Fluchtbewegung verstärkt Europa seine Festung. Mit den Elektrozäunen in Ceuta und Melilla (Spanien). Den menschenverachtenden Rückhalteabkommen mit Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko (siehe Artikel unten). Mit Satelliten, Spionagefliegern, Wärmebildkameras, Drohnen, Hunden und langen Zäunen in Osteuropa. Einer Mauer zwischen Bulgarien und der Türkei. Und dem Umbau der Grenzagentur Frontex zu einer Armee. Dahinter wird ein ganzes juristisches Arsenal eingerichtet. Ziel: die faktische Abschaffung des Menschenrechts auf Asyl. Deutsche, britische und französische Politikerinnen und Politiker wollen es nun gar aus der UN-Menschenrechtserklärung und den Verfassungen tilgen. Das wird scheitern, aber es ist ein weiterer Schritt Richtung Barbarei: Vor unseren Augen und in unserem Namen wird eine «kriminelle Politik» installiert, sagt Lorenzo Alunni von der Universität Princeton. Ein Staatsverbrechen.
Syrien 2015 war ein solcher Moment der Verschärfung. Der Krieg in der Ukraine leitete die nächste Etappe ein. Im Juni beschloss die EU einen neuen Migrations- und Asylpakt. Unter anderem soll rund um Europa tatsächlich ein physischer Zaun errichtet werden. Nancy Faeser, Deutschlands Innenministerin, feierte dies als «Zeitenwende».
Wäre da nicht, neben der Unmenschlichkeit, ein praktisches Problem: Die Abschottung kann nicht funktionieren. Mauern funktionieren nie. Donald Trumps Mauer gegen Mexiko dämmte die Zuwanderung aus Zentralamerika genauso wenig ein wie die Kreissägen, die Texas nun an der Grenze aufstellt. Umgekehrt hat etwa der Fall des Eisernen Vorhangs keine Massenbewegung Richtung Westen ausgelöst. Alle, die sich ernsthaft mit Migration beschäftigen, wissen: Ob die Grenzen geschlossen sind oder offen, ändert nichts oder nur wenig an den Wanderungsbewegungen. Die Motive, eine oft ungewisse Reise ins Exil zu wagen, sind schlicht zu stark, wie Tausende von Migrationsbiographien erzählen. Die einzige Wirkung von geschlossenen Grenzen besteht darin, dass die Migration gefährlicher wird, also mehr Menschen sterben – und eine ganze Schlepperindustrie fette Geschäfte macht.
Das wagen die Regierenden in der gegenwärtigen Überfremdungshysterie kaum zu denken. Nur zögerlich tragen sie die Erkenntnis vor, dass die grossen Volkswirtschaften dringend mehr Einwanderung brauchen. So wie für den Wohlstand in der Schweiz die EU-Immigranten «essentiell» sind (sagt das Seco) – und schon immer waren –, so muss Europa seine schrumpfenden, überalterten Bevölkerungen nun mit globaler Zuwanderung auffrischen (Spanien etwa verliert bald einen Drittel seiner Bevölkerung). Ohne neue Beitragszahlende kommen ihre Sozialsysteme in Schieflage, und das deutsche Gesundheitswesen kann nicht auf Dauer den italienischen Spitälern sämtliche Ärzte und Pflegenden abwerben. Zum Beispiel.
Eine neue Studie der Weltbank fordert, die Migration, diesen «mächtigen Motor» des Wohlstands, neu anzuwerfen. Manche Regierungen versuchen gerade, sich aus der Migration jene Fachkräfte rauszupicken, die ihre Konzerne brauchen. Doch selektive Migration ist eine brutale Illusion. Ohne offene Grenzen und sichere Migrationswege geht gar nichts.