Stur wie eine Eselin
Die Wahrheit ist ja bekanntlich ein stark umworbenes, kostbares Gut. Und sieht je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich aus.
Eine der ersten Ärzte-Serien flimmerte vor bald 70 Jahren über die Bildschirme. Sie hiess «Medic» und zeigte blutig echt den halbgöttischen Kampf von Dr. Styner um Leben und Tod. Heute bekannter ist «Emergency Room». 15 Jahre lang liess sie ihre Ärztinnen und Ärzte hochpulsig in einer Notaufnahme nähen, transplantieren und in Lichtgeschwindigkeit Computertomographien interpretieren. Schon fast unsterblich scheint «Grey’s Anatomy». Ging es in den ersten Folgen (2005) noch hauptsächlich um die Liebeleien der Ärzteschaft, so wurde die Serie spätestens ab der 16. Staffel ein «politischer Kommentar». Themen wie Abtreibungsverbot, häusliche Gewalt oder Armut wurden Teil des Spitalalltags, schreibt die Historikerin Nadia Pettannice in ihrer brillanten Serien-Analyse auf geschichtedergegenwart.ch.
Bei der Gesundheitsversorgung braucht es eine genaue Diagnose.
KOMPLIKATIONEN. Chronisch sind jedoch bei diesen Serien die Auslassungen: Serienfiguren ohne Medizinstudium? Null. Schmerzhafte Heilungsprozesse? Keine. Endlose Stunden bei der Physio? Nie. Fast so wie im echten Leben in der Schweiz. In der Operation Gesundheitssystem spielen die Pflegenden auch eher Nebenrollen (siehe Umsetzungstempo der Pflegeinitiative). Dabei verläuft der Eingriff alles andere als komplikationslos, und die wahre Herausforderung dürfte sein, die gesunden Organe heil zu lassen. Denn noch ist die Versorgung gut und nicht nur den Reichen vorbehalten. Das hat seinen Preis, selbstverständlich. Doch hier braucht es eine genaue Diagnose.
RINGELREIHEN. Bei der Kostenfrage geht’s fast zu wie im Film: Pharma, Apotheken, Krankenkassen, Spitäler und Politiker schieben sich die Schuld gegenseitig in die Crocs, Highheels oder Businessschuhe. Die Krankenkassen werfen den Spitälern, der Pharmabranche und den Apotheken vor, sie würden im Bundeshaus zu stark lobbyieren und so prämiensenkende Reformen blockieren. Die Pharmabranche stellt sich auf den Standpunkt, die Medikamente seien schon billig genug, und fordert die Apotheken auf, ihre Margen zu senken, und die Spitäler ihre Kosten. Die Spitäler verweisen an den Bund für die Anpassung der Behandlungstarife an die Teuerung, denn viele Spitäler seien unterfinanziert. Wieso Spitäler rentieren müssen und nicht in erster Linie Kranken helfen, bedürfte einer sorgfältigen Anamnese. Der Bund wiederum ist nur für nationale Gesundheitsaufgaben verantwortlich wie etwa die Zulassung und die Preise von Medikamenten. Denn in erster Linie sind die Kantone zuständig. Dazu gehört auch die Vergabe der Prämienverbilligungen an die Haushalte.
NOTAUFNAHME. Anders als die USA, aus denen die meisten Weisskittel-Serien stammen, hat die Schweiz seit 1996 ein Krankenkassenobligatorium. Obwohl die Prämie eine unfaire Steuer ist, ermöglicht sie allen den Zugang zu Ärztinnen und Spitälern. Zumindest in der Theorie. Denn zur Prämie kommen für Franchise, Selbstbehalt und Zahnkosten noch über 2000 Franken obendrauf! Damit diese Kosten nicht allzu krank machen, gibt es Prämienverbilligungen, finanziert durch Bund und Kantone. Während der Bund seinen Anteil jedes Jahr der Kostenentwicklung anpasst, machen die meisten Kantone genau das Gegenteil. 2022 schöpften 21 Kantone trotz prall gefüllten Kassen ihr Budget für die Prämienverbilligung nicht aus. Hätten sämtliche Kantone ihr gesamtes Budget ausgeschöpft, wären zusätzlich 234 Millionen Franken an die Versicherten ausgezahlt worden. Deshalb müssen die Kantone jetzt eine neue Staffel beginnen. Episode 1: Verantwortung wahrnehmen. Denn die Gesundheitskosten sollen kein Fall werden für den «Emergency Room».