Ausgelastet: Letztes Jahr flüchteten 121 Frauen in die Berner Frauenhäuser
«Wir brauchen dringend mehr Schutzplätze»

Seit sieben Jahren arbeitet Anna Tanner als Sozialarbeiterin im Berner Frauenhaus. Für sie ist klar: Solange Männer in Machtpositionen übervertreten sind, werden Frauen systematisch unterdrückt.

«Frauen kommen ins Frauenhaus, wenn sie keinen anderen Ausweg aus ihrer Gewaltbeziehung finden», sagt Anna Tanner (34). Sie arbeitet schon viele Jahre als Sozialarbeiterin im Frauenhaus Bern. Aktuell sind sieben Frauen und sechs Kinder bei ihnen untergebracht. Die Betreuungsplätze sind ausgelastet – wie immer.

Ein Frauenhaus bietet Frauen aus Gewaltbeziehungen Schutzplätze. Wo das Haus steht, bleibt aus Sicherheitsgründen streng geheim. Weitere Sicherheitsvorkehrungen: keine Handys mit Ortungsdienst, keine Fotos, sämtliche Post geht an ein Postfach, und jede Person, die vom Frauenhaus weiss, ist zur Geheimhaltung verpflichtet. «Der Schutz der Frauen steht an oberster Stelle», so Tanner. Denn sie weiss, wie gefährlich die Situationen der Frauen sind. Teilweise flüchten sie aus lebensbedrohlichen Partnerschaften.

«Wir erleben seelisch enorm verletzte Frauen.»

ZU WENIG PLÄTZE

Anna Tanner sagt: «Bei der Aufnahme erleben wir seelisch enorm verletzte und sehr verzweifelte Frauen. Alle, die bei uns ankommen, befinden sich in tiefen Krisen.» Der erste Kontakt mit dem Berner Frauenhaus entsteht oft durch die 24-Stunden-Hotline «AppElle». Dort erhalten Gewaltbetroffene eine erste Beratung und Zuweisung in ein Frauenhaus. «Sind die Frauen in erheblicher Gefahr, werden sie in ein Frauenhaus weiter weg zugewiesen», sagt Tanner. Die Frauenhäuser sind über die Kantonsgrenzen hinaus miteinander vernetzt, im Kanton Bern gibt es Häuser in Bern, Biel und Thun. Aktuell zählen die Schweiz und Liechtenstein 23 Frauenhäuser mit 202 Familienzimmern und 419 Betten. Viel zu wenige. Deshalb fordert Tanner: «Wir brauchen dringend mehr Schutzplätze für Frauen.»

Auch der Europarat kritisiert die Schweiz für unzureichende Schutzplätze. Die aktuelle Anzahl müsste sich vervierfachen, damit sie der Empfehlung vom Europarat entspricht. Dass Frauen dringend Schutz vor Gewalt benötigen, zeigen die aktuellen Zahlen zu den Femiziden in der Schweiz: Allein im Jahr 2023 wurden bereits 17 Frauen durch ihren Ehemann, Lebensgefährten, Ex-Partner, Bruder oder Sohn getötet. Und die Gewalt nimmt jährlich zu: Im Jahr 2022 wurden fast 8000 Frauen Opfer von häuslicher Gewalt, das sind zehn Prozent mehr als noch vor fünf Jahren.

Für die Aufnahme in ein Frauenhaus wird ein Treffpunkt an einem belebten Ort in der Stadt ausgemacht. Kommen die Frauen mit Kindern und haben zu viel Gepäck dabei, holt sie ein Taxi zu Hause ab. In einigen Fällen werden die Frauen zu Hause so stark bedroht, dass die Polizei sie ins Frauenhaus fahren muss. Teilweise brauchen die Frauen für ihren Schutz auch äussere Veränderungen wie etwa eine neue Haarfarbe.

Die Kinderzeichnung trägt den Titel «Eine freche gescheite Frau». (Foto: Nicole Philipp / Tamedia AG)

KEIN KONTAKT ZUM PARTNER

Nach der Ankunft im Frauenhaus erhalten die Frauen Unterstützung in ­allen Belangen: Eine Sozialarbeiterin hilft ihnen, einen neuen Job, eine neue Bleibe und in einigen Fällen auch Unterstützung bei der definitiven Trennung vom gewalttätigen Partner zu bekommen. Das sei nicht immer einfach, sagt Tanner: «Es gibt Frauen, die zurück zu ihren gewalttätigen Männern ziehen. Einige der Frauen suchen mehrmals Zuflucht im Frauenhaus, bis sie den Mut finden, sich definitiv zu trennen.» In Bern bleiben die Frauen durchschnittlich 46 Tage im Frauenhaus.

Und wie reagieren die Täter auf den Aufenthalt der Partnerin im Frauenhaus? «Das ist extrem unterschiedlich. Wir erleben von den Tätern alles zwischen Verzweiflung, Überforderung und Wutausbrüchen. Vom Betteln, dass die Frau doch nach Hause kommen soll, bis zur Morddrohung», sagt Tanner. Deshalb ist wichtig, dass während des Aufenthalts im Frauenhaus der Kontakt zum Partner nicht besteht. Einzig den Kindern wird der Kontakt zum Vater erlaubt.

FEHLENDE GLEICHSTELLUNG

Alle Frauen, die im Frauenhaus betreut werden, haben häusliche Gewalt erlebt: psychische Gewalt in Form von Drohungen, Beleidigungen oder Kontrolle. Oder physische Gewalt wie Schläge und andere Körperverletzungen sowie sexuelle Gewalt wie Nötigung oder Vergewaltigung. Sich daraus nicht lösen zu können hängt oft auch mit der finanziellen Abhängigkeit oder mit ökonomischer Gewalt zusammen. Das heisst: Die Partner verunmöglichen den Frauen den Zugang zum gemeinsamen Geld. In Extremfällen werden sogar Schulden auf den Namen der Frau gemacht. «Oft sind es auch Kombinationen der Gewalten, die bereits mehrere Jahre andauern», sagt Tanner.

Kurzfristig müsse man die Schutzplätze deutlich aufstocken, meint Tanner, die selbst auch politisch bei der SP aktiv ist. Doch langfristig nütze nur ein grundsätz­liches Umdenken: «Solange in ­unserer Gesellschaft keine Gleichstellung gilt und Männer in Machtpositionen übervertreten sind, werden Frauen weiterhin systematisch benachteiligt und unterdrückt. Oder noch schlimmer: Opfer von Gewalt.»

Veranstaltungen: 16 Tage ­gegen Gewalt an Frauen

Am 25. November starten schweizweit die 16 Tage gegen Gewalt. Mit Vorträgen, Workshops, Konzerten und Lesungen wird in der ganzen Schweiz auf die systematische Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht. Über 170 Veranstaltungen sind geplant, das ganze Programm unter www.16tage.ch.

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