Jean Ziegler
Der junge Genfer Geschäftsmann Henry Dunant traf am Abend des 24. Juni 1859 in Solferino ein. Das lombardischen Städtchen war Schauplatz der entscheidenden Schlacht des Franzosen Napoleon III. als Alliierter der italienischen Nationalisten gegen das Königreich Österreich. Auf dem Schlachtfeld sah Dunant die Sterbenden. Die verwundeten österreichischen und französischen Soldaten lagen hilflos und blutüberströmt da. Mit den Bewohnerinnen und Bewohnern von Solferino organisierte Dunant erste Hilfe.
PRÄZISE. Es war die Geburtsstunde des humanitären Völkerrechts, genauer: der Überzeugung, dass selbst der Krieg mit seinen furchtbaren Leiden gewissen Regeln zu gehorchen hat. 1863 schuf Dunant gemeinsam mit Freunden das Internationale Komitee des Roten Kreuzes, ein Jahr später die erste Genfer Konvention. Die nachfolgenden Genfer Konventionen und die nach dem Zweiten Weltkrieg erarbeiteten Zusatzprotokolle verkörpern heute das humanitäre Völkerrecht, unterzeichnet von fast allen Staaten der Welt.
Das beharrliche Schweigen von Ignazio Cassis ist ein himmelschreiender Skandal.
Die Genfer Konventionen sind präzise und konkret: Tötung und Misshandlung von Zivilisten sind verboten. Die Verwundeten und Kranken müssen gepflegt, geschützt und respektiert werden. Angriffe auf Spitäler sind verboten. Inhaftierte Personen müssen human und mit Würde behandelt werden. Geiselnahme ist verboten. Die zivile Infrastruktur, auf die die Menschen zum Leben angewiesen sind, einschliesslich der Strom- und Wasserversorgung, muss verschont bleiben. Unabhängig von einer militärischen Belagerung müssen die Parteien sicherstellen, dass die Zivilbevölkerung Zugang zur Grundversorgung hat, einschliesslich medizinischer Versorgung.
KLAR. Die fürchterlichen Verbrechen, begangen von der Terrororganisation Hamas am 7. 0ktober 2023 – Geiselnahme, Massenmord an israelischen Bürgerinnen und Bürgern, Beschuss der israelischen Zivilbevölkerung und Zerstörung ihrer Häuser durch Raketen –, sind eine klare Verletzung des humanitären Völkerrechts.
Die israelischen Massenbombardements durch Artillerie, Kriegsflotte und die F-35-Jagdbomber von Wohnquartieren, Spitälern, Schulen, Moscheen, Kirchen und Marktplätzen, die in einem Monat mehr als 15 000 Tote und 120 000 Schwerstverletzte gefordert haben – die Hälfte davon Kinder unter 18 Jahren –, sowie die Totalblockade der Zivilbevölkerung, stellen eine klare Verletzung der Genfer Konventionen dar.
KONKRET. Das Herzstück der Genfer Konventionen ist der Waffenstillstand. Eine Feuerpause reicht nicht. Der Waffenstillstand muss zwischen den Kriegsparteien vom IKRK mit der Unterstützung des Depositärstaates der Konventionen ausgehandelt werden. Depositärstaat ist die Schweiz. Nur der Waffenstillstand ermöglicht den Schutz von Zivilpersonen, die Hilfeleistung an die Bevölkerung und den Gefangenenaustausch.
Das beharrliche Schweigen von Aussenminister Ignazio Cassis ist ein himmelschreiender Skandal. Cassis muss den Waffenstillstand fordern. Und zudem die in den Konventionen ausdrücklich erwähnte Konferenz der Signatarstaaten für die Wiederherstellung des humanitären Völkerrechts einberufen.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.