Jean Ziegler
«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» So lautet Artikel 1 der Universellen Deklaration der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Zu Recht feierte die Uno in New York und Genf am 10. Dezember das 75. Jubiläum der Deklaration. Sie ist eine Errungenschaft menschlicher Zivilisation.
Nach den schrecklichen Leiden des Zweiten Weltkrieges soll sie für alle Zukunft sicherstellen, dass von nun an nicht mehr die brutale Gewalt, sondern das verbriefte Völkerrecht die Beziehungen zwischen den Staaten und Nationen bestimmt. Aber genau in diesem Jubiläumsjahr erlebt die Menschheit in Nahost die totale Verachtung aller Menschenrechte und die Lähmung der Uno.
NOT. Auf den grausamen Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Südisrael antwortet Israel unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit einem fürchterlichen Rachefeldzug gegen die palästinensische Zivilbevölkerung. 2,8 Millionen Menschen leben auf 365 Quadratkilometern. Sie sind vollständig eingeschlossen und haben keine Möglichkeit zu fliehen. Mit Ausnahme der kurzen Feuerpause bombardiert die israelische Armee seit zwei Monaten Wohngebiete, Schulen, Moscheen, Gebäude des Uno-Flüchtlingswerkes UNRWA, Marktplätze und Spitäler. Über 17 000 Menschen sind bereits getötet worden. Dazu kommen 210 000 Schwerstverletzte und eine unbekannte Zahl von Opfern, die unter den Trümmern begraben sind und nicht geborgen werden können. Mehr als die Hälfte der Opfer sind Kinder unter 18 Jahren.
EHRE. Der israelische Rachefeldzug grenzt an Völkermord. Netanjahu kündigte eine monatelange Fortsetzung der Bombardements an und verweigert den Waffenstillstand. Von 35 Spitälern in Gaza sind 28 schwer beschädigt oder ganz zerstört. Schweizer Ärztinnen und Pflegerinnen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Kriegschirurgen, die für die Hilfsorganisationen «Ärzte ohne Grenzen» und «Ärzte der Welt» arbeiten und oft ohne Anästhesie und unter Gefahr für das eigene Leben Schwerstverletzte operieren, sind die Ehre unseres Landes.
SCHANDE. Der Bundesrat muss sich sofort für einen unbegrenzten Waffenstillstand einsetzen. Doch Aussenminister Ignazio Cassis ist völlig überfordert und steht unter dem Einfluss seines Generalsekretärs Markus Seiler, ehemaliger Nachrichtendienstchef und enger Freund des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad. Cassis weigert sich, den ihm als Aussenminister des Depositärstaates der Genfer Konventionen aufgetragenen Einsatz für einen sofortigen Waffenstillstand wahrzunehmen. Das ist eine Schande für die Schweiz und mörderisch für Hunderttausende von palästinensischen Familien in der Hölle von Gaza.
Jean Ziegler ist Soziologe, Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrates und Autor. Sein 2020 im Verlag Bertelsmann (München) erschienenes Buch Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten kam im Frühling 2022 als Taschenbuch mit einem neuen, stark erweiterten Vorwort heraus.