Antonella Molle ist ein Urgestein: Seit über 40 Jahren arbeitet sie im Verkauf. Bis heute gefällt ihr der Kontakt mit der Kundschaft und die Arbeit an der Front. Diese würde auch ihren Chefs guttun, findet sie.
COOP-VERKÄUFERIN Antonella Molle ist mit Herz dabei: An der Kasse und in der Gewerkschaft. (Foto: Michael Schoch)
Antonella Molle klopft sich energisch mit dem rechten Handrücken auf ihren linken Unterarm. Einmal, zweimal, dreimal. «Hier. Hier in meinen Adern fliesst Verkaufsblut», sagt sie und lacht tief und laut. Ihre braunen Augen leuchten hinter der markanten, grossen Brille mit Tigermuster. Seit über 40 Jahren arbeitet die 61jährige als Verkäuferin. Von Müdigkeit keine Spur. Im Gegenteil. «Ich stehe jeden Morgen gerne auf!»
Ihre Arbeitstage beginnen frühmorgens um halb sieben Uhr. In der Coop-Filiale in Wald im Zürcher Oberland räumt sie vor der Ladenöffnung die Regale im Eingangsbereich ein. Mit Salaten und Takeaway-Produkten. Etwas später folgen Blumen und Zigaretten. Wenn die Ladentüre geöffnet wird, setzt sie sich an die Kasse. Dort bedient sie täglich rund 400 Kundinnen und Kunden. Vor dem Wochenende oder einem Feiertag können es auch mal 600 sein. Dann flitzt ihre Hand nur so über den Scanstreifen. 4000 Produkte erfasst sie täglich.
Dabei sieht sie nicht etwa auf ihre Hände – «die können das Scannen auswendig» –, sondern den Kundinnen in die Augen. Die alte Dame, deren Mann vor kurzem gestorben ist. Der junge Büezer mit dem neugeborenen Baby. Oder das Ehepaar, das jeden Samstag seinen Wocheneinkauf gemeinsam erledigt. Die 61jährige Molle fragt nach, wie es gehe. Nimmt Anteil und hört zu. Oder macht einen dummen Spruch. «Ich kann gleichzeitig liefere und lafere», sagt sie. Vor allem ältere Menschen schätzen Molles Offenheit, ihre Energie, ihre Neugierde, ihr offenes Ohr. Kürzlich hat ihr eine ältere Dame eine Rose vorbeigebracht. Als Dank für ihre Arbeit. «Ich bin eine Verkäuferin der alten Schule. Der Kontakt mit Kundinnen und Kunden ist mir heilig!»
LIEBE ZUM ESSEN. Aufgewachsen ist Antonella Molle mitten in Zürich. Im Lochergut. Heute liegt es in einem hippen Quartier, damals war es eine Siedlung vor allem für Büezerinnen und Büezer. Ihr Vater war Chauffeur, starb vor über 50 Jahren. Ihre Mutter nähte für die grosse jüdische Gemeinde im Quartier.
Die Familie kam über die Runden. «Wir hatten nicht viel. Aber irgendwie ging es immer.» Oft stand sie in der Küche und schaute der Mutter beim Kochen über die Schulter. Der Duft von frischen Kräutern und angebratenen Zwiebeln blieb haften. «Essen und Genuss waren bei uns immer wichtig. Da drücken die italienischen Wurzeln durch.»
Nicht zuletzt deshalb entschied sich die junge Antonella Molle für eine Verkaufslehre bei der damaligen EPA. Natürlich in der Lebensmittelabteilung: «Ich könnte keine Schuhe oder Parfums verkaufen. Für das Essen schlägt mein Herz.» Der Filialleiter nahm sie unter seine Fittiche. Er zeigte ihr den Laden. Begleitete sie während der Lehre und lehrte sie das genaue Hinsehen, Wahrnehmen und Reagieren. Jeder zufriedene Kunde sei die beste Werbung für das Geschäft, trichterte er ihr ein.
Nach der Lehre wechselte sie ins Büro. Als Telefonistin. Als Direktionsassistentin. Doch Sitzen hinter dem Computer, das war nicht ihres. «Das war wie eine Schlinge um den Hals», erinnert sich Antonella Molle. Erst im Laden, in den Leuten, im Treiben, in der Bewegung konnte sie wieder frei atmen. «Ich brauche das Leben um mich herum!»
SINN FÜR GERECHTIGKEIT. In den Jahren danach arbeitete sie sich durch die grossen Detailhändler. Von EPA über Migros bis zu Carrefour. Ein ständiger Begleiter: die Arbeitsbedingungen, tiefer Lohn, immer längere Arbeitszeiten, starke Hierarchien. 2003 trat sie deshalb in die Unia ein. Ihren grössten Erfolg in der Gewerkschaft feierte sie 2005. Damals arbeitete sie bei Carrefour. Sie half mit, die Missstände in ihrer Filiale aufzudecken. Gezieltes Mobbing, willkürliche Verwarnungen und sexuelle Übergriffe kamen ans Tageslicht. work berichtete unter dem Titel «Wildwest bei Carrefour». Der Ladenleiter musste gehen, Mittätern wurde gekündigt. Antonella Molle: «Das hat mir gezeigt, dass sich das Kämpfen lohnt.»
Bis heute gehen der Zürcherin Ungerechtigkeiten gegen den Strich. «Diejenigen, die im Büro arbeiten, haben oft keine Ahnung, wie es an der Front zu- und hergeht. Da liegen Welten dazwischen.» Am Computer lassen sich einfach Dinge bestimmen: Personal abbauen, zusätzliche Aufgaben einplanen, Arbeitszeiten verlängern. Ausbaden müssten es dann die Leute im Verkauf.
Auch die schlechte Bezahlung macht sie hässig: «Schau: Im Jahr 1978 verdiente ich rund 2000 Franken. Heute habe ich nur wenig mehr als das Doppelte – obwohl die Mieten, die Heizkosten, das Leben ungleich teurer geworden sind. Das ist doch eine Frechheit!» redet sie sich in Rage und streicht sich die kurzen Haare aus dem Gesicht. Von wo nimmt Antonella Molle mit ihren 61 Jahren nur die Energie? «Ich bin ein altes Schlachtross», sagt sie und lacht laut auf. Man glaubt es ihr aufs Wort.
Antonella Molle Essen und Reisen
«Ich nähe gern, ich koche gern, ich lese gern, ich kümmere mich um meine Enkeltochter – und ich liebe das Meer!» sprudelt es aus Antonella Molle raus. Könnte sie sich einen zweiten Beruf aussuchen, wäre es Reiseleiterin. Und zwar nicht irgendwo: in Ägypten. «Im Tal der Könige, da blüht mein Herz auf. Kairo ist eine einzigartige Stadt. Und die Geschichte des Landes ist einmalig.»
EXPERTIN. Erst vor einem Jahr war die 61jährige Zürcherin mit ihrer Tochter dort. Im Museum wusste sie viele Antworten schneller als der Experte. «Da hat meine Tochter grosse Augen gemacht», erinnert sie sich. Nur mit den ägyptischen Spezialitäten aus Reis, Linsen und Fleisch wird sie nicht warm. «Beim Essen bin ich durch und durch Italienerin!»
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