Andreas Rieger ist einer der Väter der Unia. Und von work. Jetzt, mit 65, will der Spät-68er etwas kürzer treten.
«Andi», der Kämpfer: Gewerkschafter Andreas Rieger geht in Pension. In Raten. (Foto: Jasmin Frei)
«Andi», wie ihn alle nennen, bittet demnächst zum Abschiedsapéro. Viele werden dann in die Berner Unia-Zentrale kommen. Dies, obwohl Rieger schon vor fünf Jahren aus dem Unia-Co-Präsidium ausgeschieden ist und seit drei Jahren keine Leitungsverantwortung mehr hat. Aber er blieb in der Gewerkschaft präsent – als Impulsgeber, Denker und Analytiker. Gerade stellt er als Herausgeber ein neues Unia-Buch fertig: «Streiks im 21. Jahrhundert». Es erscheint im Dezember in drei Sprachen. Darin demontiert er den Mythos der streikfreien Schweiz und zeigt die komplexe Realität der Arbeitskämpfe auf. Ein zentrales Thema, das ihn seit vielen Jahren beschäftigt. Für ihn ist die Arbeiterbewegung nur durchsetzungsfähig, wenn sie auch kämpfen kann. Dafür hat er sich stets eingesetzt, und zwar seit er 1992 zur Bau- und Industriegewerkschaft GBI gestossen ist (siehe Text unten).
BLICK ZURÜCK. 65 ist Rieger schon im März geworden. Er bezieht AHV, aber ruhiger geworden ist er keineswegs. work trifft ihn in einem schmalen Büro am ehemaligen Unia-Hauptsitz in Zürich. Er teilt es noch einige Wochen mit Vasco Pedrina, seinem politischen Weggefährten und dem ersten Unia-Präsidenten. Beide aus der 68er Bewegung, verkörpern sie eine ganze Generation Gewerkschaftsgeschichte. Heute sind sie unter anderem damit beschäftigt, ihre Erfahrungen festzuhalten. Rieger: «Damit sie für die Jungen nicht verloren gehen.»
Blickt er auf fünfzehn Jahre Unia zurück, so ist Rieger «happy». Viele hätten bei der Gründung prophezeit, die Fusion von Smuv und GBI ergebe einen trägen Tanker. Bürokratisch, schwerfällig, immobil. «Diese Befürchtungen waren falsch.» Die Unia sei munter, vital, kämpferisch und wisse sich Respekt zu verschaffen. Angesprochen auf die internen Turbulenzen der letzten Zeit, winkt Rieger ab: «Solche hat es immer gegeben. Manchmal stand einfach weniger in der Zeitung.» Besonders freut ihn, dass mit Vania Alleva eine starke Frau an der Spitze der grössten Gewerkschaft steht. Wenn ihm etwas Sorgen bereitet, so ist es das schmale Reservoir an Personen, die gewerkschaftspolitisch talentiert sind und gleichzeitig auch Führungsverantwortung übernehmen können. «Nur eine dieser Qualitäten zu haben reicht in einem komplexen Laden wie der Unia eben nicht aus.»
EIN MANN IM UNRUHESTAND: Der frühere Unia-Chef legt auch im AHV-Alter seine Hände nicht in den Schoss. Andreas Rieger, 65, betätigt sich weiterhin als linker Vordenker, gewerkschaftlicher Impulsgeber und Publizist.
MARX UND REBBERG. Jetzt steht Rieger nicht mehr auf der Lohnliste der Unia. Er wird aber noch einzelne Aufträge erledigen. Sein Rückzug geschehe «schrittweise», sagt er. Nur noch spazierengehen oder im Rebberg am Walensee, den er von der Mutter geerbt hat, Blattläuse bekämpfen will er nicht. Trotzdem freut er sich auf mehr Freizeit, mehr Lesen, mehr Reisen zusammen mit seiner Frau, zum Beispiel nach Apulien oder Lateinamerika. Das Filmfestival von Locarno hat er kürzlich mit dem Wochenpass besucht. «Wie Ruth Dreifuss auch», berichtet er schmunzelnd.
Andreas Rieger wird weiterhin als work-Kolumnist zu lesen sein («Riegers Europa»). An wichtigen Themen will er dranbleiben. Da ist zum Beispiel die Mindestlohnpolitik. Unlängst hat er im linken deutschen Magazin «Sozialismus» einen Aufsatz publiziert. Darin diagnostiziert er in Europa einen «Frühling der Mindestlöhne». Er fordert, dass die Staaten mit der Festsetzung von ausreichenden Mindestlöhnen nicht nur Armut und Niedriglöhne bekämpfen, sondern auch die Tarifsysteme stärken. Besonders die «Troika-Linie» gehöre auf den Misthaufen der Geschichte. Damit meint er die finanzielle Unterdrückung von Südeuropa durch die EU. Sie hat in Griechenland, Portugal und Spanien, aber auch in Irland zu unwürdigen Tieflöhnen und zur Verarmung von ganzen Bevölkerungsteilen geführt.
Und dann will Rieger die schweizerischen Arbeitgeber und ihre Organisationen ins Visier nehmen. Er habe sich vorgenommen, die Bedeutung der Wirtschaftsverbände zu untersuchen, verrät er. «Das ist auch eine Geschichte der Macht in unserer Gesellschaft.» Da blitzt bereits wieder der Analytiker und Stratege auf. Denn es ist nicht anzunehmen, dass seine Erkenntnisse zwischen Buchdeckeln bleiben werden. Als Linker kennt Rieger seinen Marx: Man soll die Welt nicht nur interpretieren. Es kommt darauf an, sie zu verändern.
Andreas Rieger: Der Spät-68er
Schon als Gymnasiast in Engelberg und Altdorf war Andreas Rieger politisch aktiv. Erst recht als Student der Sozialpädagogik. Damals betätigte sich der 1952 geborene Zürcher in der trotzkistischen Linkspartei SAP. Über den VPOD stiess er 1992 zur Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) als Bildungsverantwortlicher. Dann nahm er Projekte an die Hand, etwa die Zeitungen work und Area sowie den Aufbau einer neuen Dienstleistungsgewerkschaft. Die kleine «unia» wurde schliesslich zur Vorläuferin der grossen. Und Rieger zu einem der Väter der heutigen Unia.
EUROPA. Rieger arbeitete eng mit dem damaligen GBI- und späteren Unia-Präsidenten Vasco Pedrina zusammen. Dieser pflegte augenzwinkernd über seinen damaligen Sekretär zu sagen, er sei «mein Suslow», nach dem gleichnamigen Chefideologen der sowjetischen KPdSU. Doch Rieger mag diesen Vergleich nicht. So oder so: Als Stratege bestimmte Rieger den gewerkschaftlichen Gang der Dinge massgeblich mit, auch im Gewerkschaftsbund. Eines der durchschlagendsten Projekte war die Kampagne «Kein Lohn unter 3000 Franken» Ende der 1990er Jahre.
2006 wurde Rieger Co-Präsident der Unia. Zusammen mit Renzo Ambrosetti leitete er die Unia bis 2012. Danach war Rieger in einem kleinen Teilpensum für die Unia tätig. So als Vertreter in der Dienstleistungs-Internationale UNI oder im Europäischen Gewerkschaftsbund. Politisch bleibt er weiterhin aktiv, etwa bei der Konzernverantwortungsinitiative und beim Erwachsenenbildungsinstitut Ecap.