Zeitzeugin Irma Frei (83) über die Zwangsarbeit in der Bührle-Spinnerei
«Wir verdienen alle eine finanzielle Entschädigung!»

Irma Frei (83) wurde als Jugendliche während drei Jahren in der Spinnerei von Waffen­händler Emil Bührle ­zur Arbeit gezwungen. Gesamthaft erhielt sie dafür magere 50 Franken. Jetzt will sie mit den Bührle-Erben ­abrechnen.

«Ich erzähle meine Geschichte und fordere Entschuldigungen und Entschädigungen im Namen von vielen betroffenen Frauen!», sagt die Irma Frei (83) zu work. Frei war in den 1960er Jahren Zwangsarbeiterin in der Textilfabrik von Waffenhändler Emil Bührle (siehe Text links) in Dietfurt SG. Im Alter von 17 Jahren wurde sie jahrelang im Marienheim Dietfurt «versorgt». Die 83jährige erzählt ihre Geschichte in Büchern, Filmen und Theatern. Denn Frei hat eine Mission: Sie will über die Umstände der Zwangsarbeiterinnen aufklären. Und: «Wir Zwangsarbeiterinnen verdienen alle eine finanzielle Entschädigung!»

Eine persönliche Entschuldigung erhielt Irma Frei mittlerweile nicht nur von der Stadt Schaffhausen, sondern auch vom Bührle-Erben Gratian Anda. Er ist Enkel des Waffenindustriellen und besuchte Frei im Dezember letzten Jahres zu Hause. Er brachte ihr einen Geschenkkorb mit Pasta und weiteren Lebensmitteln. Anda ist, wie sein Grossvater es war, ein Geschäftsmann. Beim Treffen mit Irma Frei umschiffte der Bührle-Erbe das Thema Geld gänzlich. Frei ist enttäuscht, dass er die Zwangsarbeiterinnen nicht finanziell entschädigt. Denn: «Er ist ja Milliardär!»

ALS «ARBEITSFAUL» ABGESTEMPELT

Ihre Vergangenheit als Zwangsarbeiterin hat Frei viele Jahrzehnte vertuscht, nicht mal ihren eigenen Töchtern hat sie von ihrer Zeit als Zwangsarbeiterin erzählt. Erst mit den Recherchen vom Beobachter-Journalisten Yves Demuth fasste sie den Mut, sich ihrer Vergangenheit zu stellen. Traumatische Heimgeschichten wie jene von Irma Frei publizierte Demuth in seinem Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen – eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit».

Irma Frei war sieben Jahre alt, als sich ihre Eltern scheiden liessen. Ihrer Mutter wurde als Alleinerziehende die Vormundschaft durch die Schaffhauser Behörden entzogen. Obwohl Freis Mutter um ihre Kinder kämpfte, hatte sie keine Chance auf das Sorgerecht. «Nichts half. Auf sie als geschiedene Frau hörte niemand.» Frei erlebte eine Kindheit, in der sie von Heim zu Heim gereicht wurde.

Mit 17 Jahren arbeitete sie als Haushaltshilfe in einer wohlhabenden Familie in Rothenburg LU. Als Dienstmädchen kümmerte sie sich um den Haushalt und musste die Familie bekochen. Weil sie sich nach der strengen Hausarbeit Pausen gönnte, hat sie die ­Familie Frei bei der Schaffhauser Vormundschaftsbehörde angeschwärzt. Weil sie faul sei. Und so «kümmerte» sich die Behörde um einen neuen Platz für Frei. Die Vormundschaft versprach ihr «eine schöne Unterkunft mit vielen anderen Mädchen». Entpuppt hat sich diese Anstalt als ein Ort, der Frei für den Rest ihres Lebens traumatisierte.

«Ich musste Zwangsarbeit für die reichste Familie der Schweiz leisten.» (Irma Frei, ehemalige Zwangsarbeiterin)

STRENGE FABRIKARBEIT

Im Juni 1958 kam Irma Frei im Marienheim Dietfurt im Toggenburg an. Sie wurde «zur Arbeit erzogen». In den Akten schrieb die Vormundschaft, Frei sei arbeitsscheu und müsse nun für mindestens zwei Jahre an «ausdauernde» Arbeit gewöhnt werden. Bei der Ankunft in der Anstalt fiel ihr schnell der Groschen: «Irma, jetzt bist du wieder in einem Heim gelandet.» In Dietfurt waren gegen 100 junge Frauen untergebracht. Direkt neben dem Heim stand die Spinnerei, deren Besitzer Emil Bührle war.

Gleich am darauffolgenden Tag begann die strenge Arbeit in der Spinnerei. Die «versorgten» Mädchen wurden täglich um vier Uhr früh geweckt, anschliessend stand monotone Arbeit in der Fabrik an. Nach oder vor den Schichten mussten sie diverse Ämtli im Heim erledigen. Die Anstalt stand unter Aufsicht der Ingenbohler Schwestern. Monatlich erhielten die jungen Frauen fünf Franken Taschengeld, einen richtigen Lohn gab es nicht. Und auch kaum Freizeit: nur sonntags nach der Kirche hatten die Zwangsarbeiterinnen vier Stunden frei.

Irma Frei wusste, dass Rebellieren ihre Zeit im Heim nicht angenehmer machen wird. Also hielt sie die strenge Fabrikarbeit und das triste Heimleben während drei Jahren aus. Eine Woche vor ihrem 20. Geburtstag wurde Frei aus dem Heim entlassen, sie packte ihren Koffer und erhielt ein Couvert mit 50 Franken. Eine Abrechnung gab es nie. Frei sagt: «Ich musste Zwangsarbeit für die reichste Familie der Schweiz leisten. Sie schuldet mir noch über 45 000 Franken Lohn.»

«GERECHTIGKEIT FÜR ALLE»

Nachdem Frei das Heim am 14. April 1961 verlassen hatte, hatte sie das Glück, ein familiäres Auffangnetz zu haben. Den Tag ihrer Entlassung wird sie nie vergessen: «Ich freute mich so fest, endlich frei zu sein!» Sie konnte bei ihrer Schwester wohnen, fand einen Job und heiratete vier Jahre später. «Ich war beruflich immer sehr ambitioniert, weil ich den Behörden beweisen wollte, dass es auch ein Heimkind schaffen kann», sagt sie zu work. Als Heimkind und Zwangsarbeiterin hatte sie mit vielen Vorurteilen zu kämpfen. Sie fand Leidenschaft in der Mode und arbeitete viele Jahre in dieser Branche, bis sie schliesslich stellvertretende Geschäftsleiterin einer ­Herrenboutique an der Zürcher Bahnhof­strasse wurde.

Ihre Motivation, sich für Gerechtigkeit der Zwangsarbeiterinnen einzusetzen, holt sie sich aus Begegnungen mit anderen Betroffenen. In der Stadt Zürich haben Zwangsarbeiterinnen eine finanzielle Entschädigung erhalten, für dasselbe kämpft Frei nun in Schaffhausen. Frei: «Mir persönlich geht es nicht ums Geld, ich hatte trotz meiner Vergangenheit als Zwangsarbeiterin viel Glück im Leben. Doch ich kenne viele Betroffene, die heute noch sehr darunter leiden. Eine finanzielle Entschädigung ist das mindeste!»

Mit der Aufarbeitung der Vergangenheit als Zwangsarbeiterin stellte sich Irma Frei vielen schweren Begegnungen. Mit einem Fernsehteam besuchte sie das Marienheim in Dietfurt. Dieser Anblick weckte bei ihr grausame Erinnerungen. Und trotz allem hält Frei die Füsse nicht still: «Ich gebe keine Ruhe, bis man unsere Geschichten kennt und wir Zwangsarbeiterinnen unsere Gerechtigkeit bekommen.»


Sammlung Bührle im Zürcher Kunsthaus: Die wohl umstrittenste Ausstellung der SchweizDer Kanonenkönig zwischen Kunst und Krieg

Der Waffenindustrielle Emil Bührle und das Zürcher ­Kunsthaus sind seit fast 100 Jahren eng miteinander verknüpft. Demnach erhält seine Kunstsammlung einen Ehrenplatz im Museum. work hat die wohl umstrittenste Kunst­ausstellung des Landes besucht.

KRIEGSPROFITEUR: Nazifreund Bührle wurde durch Waffen reich. (Foto: Getty Images)

Emil Bührle war vieles: Nazifreund, ­Waffenfabrikant, Kunstliebhaber und Gewerkschaftshasser. Und reich, sehr reich! 1945 galt er als reichster Mann der Schweiz. Sein Vermögen häufte sich besonders während des Zweiten Weltkrieges an. Damals belieferte Bührle mit seiner Waffenproduktion in Oerlikon das Dritte Reich. Seine Nähe zu den Nazis war unbestritten (work berichtete).

Bührle war ein übler Kriegsprofiteur, der Zweite Weltkrieg, der Koreakrieg sowie der Kalte Krieg machten ihn stinkreich. Notlagen oder Verfolgungen nutzte er für seinen Profit aus. Von flüchtenden Juden, die während des Zweiten Weltkriegs aus ihren Kunstwerken möglichst schnell Geld machen mussten, kaufte Bührle Werke ab. Auch sonst pflegte er sein teures Hobby: Er häufte über 600 bedeutende Kunstwerke an. Etwa ein Drittel der Sammlung ist ausgestellt im Zürcher Kunsthaus.

Bührle hatte eine enge Beziehung zum Zürcher Kunsthaus. Er war Mitglied des Vorstandes, finanzierte einen Erweiterungsbau und schenkte der In­stitution einige seiner Werke. Im Herbst 2021 stellte das Museum Bührles Sammlung das erste Mal aus – darauf folgte heftige Kritik von allen Seiten. Der Grund: die Sammlung des Waffenindustriellen wurde praktisch ohne Kontext ausgestellt. Seit Herbst 2023 ist die Ausstellung unter dem Namen «Die Sammlung Bührle: Kunst, Kontext, Krieg und Konflikt» im neuen Konzept präsentiert und möchte die verpasste Aufklärung nachholen.

NEUES KONZEPT, ALTE FEHLER

Die öffentliche Führung, die work besucht, lockt viele Interessierte an. Unbestritten fährt das Kunsthaus mit der Bührle-Sammlung eine fein säuberliche Krisenkommunikation und bietet Kontext. Auch die Führung durch die Hallen ist Schritt für Schritt durchdacht. Fehltritte erlaubt sich die Museumsangestellte, die an diesem Tag für die Führung zuständig ist, keine. Fragen sind erlaubt, aber bitte nicht zu kritische. Zu einigen will sich die Museumsangestellte «nicht äusern». Fast so, als habe das Kunsthaus aus der Kritik gelernt, lieber zu schweigen statt zu antworten.

Bereits in der Eingangshalle wird man mit der Frage konfrontiert, ob diese Kunstsammlung ausgestellt werden sollte oder nicht. Dazu äussern sich Historiker, Politikerinnen und Holocaust-Überlebende im Videoformat. Im darauffolgenden Raum zeigt die Ausstellung einige Werke, die Bührle von Juden abkaufte. Neben dem Kunstwerk stehen Infos zu den jeweiligen Vorbesitzern und ihre tragischen Fluchtgeschichten. Sich da noch auf die «beeindruckende» Kunst zu konzentrieren? Praktisch unmöglich. Die Stimmung unter den Führungsbesucherinnen bleibt beklemmend.

UND DIE ZWANGSARBEITERINNEN?

Das Thema Zwangsarbeiterinnen in Bührles Fabriken wird bei der Führung gänzlich ausgelassen. Und in der gesamten Ausstellung sind ganze fünf Sätze zu diesem Thema zu finden. Unvollständig ist auch die laufende Provenienzforschung, die erst im Sommer dieses Jahres abgeschlossen wird. Das Kunstmuseum fährt bei der Bührle-Sammlung ein Aufklärungskonzept, das noch in den Kinderschuhen steckt.

 

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