Nach 180 Streik-Tagen in einer sächsischen Recyclingfabrik beschloss die Belegschaft Streikunterbruch zugunsten von Verhandlungen. Davon wollte ihr Chef aber nichts wissen und verhängte eine Aussperrung – die erste in Deutschland seit 40 Jahren!
AUSGESPERRT: Die Recyclingfirma Metalfloat ihre Arbeitenden, die sich für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt haben, mit einem Hausverbot belegt. (Foto: IG Metal / Felix Adler)
Mit Dirk Schulze ist dieser Tage nicht gut Kirschen essen. Der Bezirksleiter der Industriegewerkschaft Metall Berlin-Brandenburg-Sachsen ist putzverruckt. Und zwar auf Thomas Müller, den Geschäftsführer der Recyclingfabrik SRW Metalfloat in Espenhain bei Leipzig. Dieser hatte am 6. Mai das gesamte Werksgelände durch Security-Leute mit Wachhunden abriegeln lassen. Zudem sperrte er die Zutrittskarten von 90 Mitarbeitenden. Und draussen am Werkstor liess er ein Plakat aufhängen. Darauf die Ansage, dass alle Schrotterinnen und Schrotter, die sich zuvor am Streik beteiligt hatten, ab sofort ausgesperrt und bis Ende Mai mit einem Hausverbot belegt seien. Lohn gebe es für sie nicht. Gewerkschafter Schulze zeigt sich schockiert: «Dieses Verhalten erinnert an das 19. Jahrhundert und passt in keiner Weise zu einer Zukunftsbranche!» Chef Müller müsse sofort «zu Vernunft und Verantwortung zurückkehren».
KLATSCHE NACH FRIEDENSGESTE
Tatsächlich war es in Deutschland seit 40 Jahren zu keinen Aussperrungen mehr gekommen. Das «Streikmittel der Arbeitgeber» hatte vor allem in den harten und langen Klassenkämpfen um 1900 Konjunktur (siehe Box unten). Schulzes Wut ist umso grösser, als dass die SRW-Belegschaft vor ihrer Aussperrung einen grossen Schritt auf Müller zugegangen war. Schulze spricht sogar von einer «Friedensgeste»: Am 3. Mai hatten die Streikenden erklärt, ihren Arbeitskampf zu unterbrechen, «um lösungsorientierte Gespräche zu ermöglichen». Dies nach sage und schreibe 180 Tagen Streik – dem längsten Streik in der Geschichte der IG Metall! Chef Müller aber will von Gesprächen offenbar nichts wissen und glaubt, die Gewerkschaft mit der Aussperrung ausbluten lassen zu können. Ob sein Plan aufgeht, scheint fraglich. Denn die Arbeitsbedingungen bei SRW sind so unterirdisch, dass die Belegschaft keine Alternative hat zum Kampf.
LÖHNE UNTER 2000 EURO
Die Schrotterinnen und Schrotter von SRW sortieren tagein, tagaus Metallabfälle. Und zwar im Dreischichtbetrieb und unter widrigen Umständen: «In ihren Blechcontainern ist es im Sommer über 40 Grad heiss und im Winter so kalt wie draussen», schreibt die IG Metall. Und: «Überall ist Metallstaub in der Luft, der sich in die Lunge setzt.» Hundsmiserabel selbst für ostdeutsche Verhältnisse sind auch die Löhne. Laut Gewerkschaft zahlt SRW brutto nicht einmal 2000 Euro. Und Lohnerhöhungen seien zwar immer wieder versprochen, aber nie umgesetzt worden. Am 8. November 2023 hatten die Schrotterinnen und Schrotter genug und begannen ihren Streik. Sie fordern 8 Prozent mehr Lohn, jeweils 1500 Euro Urlaubs- und Weihnachtsgeld und eine Verkürzung der Arbeitszeit von 40 auf 38 Stunden. Ausserdem soll SRW endlich einen Tarifvertrag (das deutsche Pendant zum schweizerischen GAV) unterzeichnen. Nun zeigte SRW-Chef Müller, dass er zu all dem nicht bereit ist und lieber zu Klassenkampfmethoden aus der Zeit des Frühkapitalismus greift. Oder greifen muss. Denn die SRW ist kein unabhängiges Unternehmen, sondern gehört zum chinesischen Chiho-Konzern. Registriert ist dieser auf den Cayman-Inseln, die Entscheider sitzen in Hongkong.
Die Aussperrung – der Streik der Bosse
Von einer Aussperrung spricht man, wenn ein Arbeitgeber zur Durchsetzung seiner Bedingungen eine Gruppe von Arbeitnehmenden aus dem Betrieb ausschliesst. Klassischerweise wird dabei das Werkstor abgeriegelt und das Firmenareal von Sicherheitsleuten oder bezahlten Streikbrechern umstellt. Wichtig: Eine Aussperrung ist keine Entlassung, sondern eine temporäre Massnahme im Rahmen eines Arbeitskonflikts. Wichtigstes Druckmittel ist dabei der Lohn, der während der Massnahme entfällt. Damit sollen die Ausgesperrten zermürbt und diszipliniert werden. Oft springt aber eine Gewerkschaft in die Bresche und zahlt ihren ausgesperrten Mitgliedern Streikgelder aus. In ihrer betrieblichen Wirkung lässt sich eine Aussperrung kaum von einem Streik unterscheiden. In beiden Fällen stehen die Maschinen ganz oder teilweise still.
AUSGESTORBEN, ABER GESCHÜTZT
Heute sind Aussperrungen äusserst selten geworden, in der Schweiz sogar ganz verschwunden. Der letzte Aussperrungsversuch hat ein Tessiner Granitwerk im Jahr 2014 unternommen. Doch die Gerichte befanden später, es habe sich nicht um eine Aussperrung, sondern um missbräuchliche Kündigungen gehandelt. Der verurteilte Geschäftsführer musste über 50 000 Franken Lohn nachzahlen. Der letzte, der in der Schweiz tatsächlich zur Aussperrung gegriffen hatte, war Martin Hellweg, der Mann, der 2006 die Swissmetal-Fabrik in Reconvilier BE zugrunde managte. Zu zwei Aussperrungen war es auch im nationalen Drucker-Warnstreik von 1994 gekommen, nämlich beim freisinnigen «Aargauer Tagblatt» und der christlich-konservativen Paulusdruckerei in Freiburg. Obwohl längst ausgestorben, ist das Recht auf Aussperrung seit 1999 von der Bundesverfassung garantiert. Ebenso das Recht auf Streik. (jok)