Der Landesstreik: Die Mutter aller Streiks
Suppenküchen, Handgranaten und ein dreifacher Mord

Das hatte die Schweiz noch nie erlebt: Plötzlich herrschte Aufruhr im ganzen Land. Die drei Streik­tage im November 1918 veränderten die Schweiz. Für immer.

EINSATZ DER ARMEE: Soldaten stehen neben gesperrten Gleisen am Bahnhof Grenchen Süd. (Foto: Stadtarchiv Grenchen)

Es war an einem Dienstag, einem grauen Novembertag: 250 000 Frauen und Männer legten ihre Arbeit nieder. Und stiessen in den Strassen auf die Armee. Am dritten Streiktag erschossen Soldaten im solothurnischen Grenchen die drei Arbeiter Marius Noirjean (29), Fritz Scholl (21) und Hermann Lanz (29). Von hinten und aus nächster Nähe. Schliesslich blies die Streikführung die Aktion ab, weil ein Bürgerkrieg drohte. War der Landesstreik nun eine Niederlage für die Arbeiterbewegung? Oder doch ein Sieg? Beides, sagt Adrian Zimmermann. Der Historiker spricht von «Geschlagenen, die siegten». Zu Recht, denn ein Teil der Streikforderungen wurde bald erfüllt, andere erst später (siehe Box).

Generalstreik: Die 8 Forderungen

  1. Proporzwahl des Nationalrats
  2. Frauenstimm- und -wahlrecht
  3. Allgemeine Arbeitspflicht
  4. 48-Stunden-Woche
  5. Reorganisation der Armee als Volksheer
  6. Sicherung der Lebensmittelversorgung
  7. Alters- und Invalidenversicherung
  8. Tilgung aller Staatsschulden durch die Besitzenden

Und so kam es zu diesem ersten Generalstreik in der Schweiz, der sich 2018 zum hundertsten Mal jährt:

1. HUNGER UND ELEND

Während des Ersten Weltkriegs (1914–1918) ging es mit der Versorgung bergab. Kartoffeln und Kohle wurden knapp. Der Brotpreis verdoppelte sich innert weniger Jahre. Während die Löhne stagnierten, stieg die Teuerung unerbittlich an. Wer ins Militär musste, bekam keinen Lohnausfall. Tausende Familien drohten zu verarmen, viele litten Hunger. Die Historikerin ­Maria Meier hat die prekäre Lage im Sommer 1918 am Beispiel von Basel untersucht. Die Stadt musste Suppenküchen einrichten, schnell waren sie überfüllt. Kinder waren unterernährt. Der Schwarzmarkt mit den Rationierungskarten blühte. Schieber und Spekulanten hatten Hochkonjunktur. Auch die Bauern profitierten. Gleichzeitig lebten Vermögende in Saus und Braus. Unternehmer und Aktionäre strichen ­sagenhafte Renditen ein. Exportfirmen mutierten zu «Kriegsgewinnlern». Diese scharfen ­sozialen Gegensätze liessen die Verbitterung ­unter den Arbeiterinnen und Arbeitern, aber auch unter Angestellten rapid wachsen.

2. BÜRGERLICHES VERSAGEN

Im Bundesrat sassen sechs Freisinnige und ein Katholisch-Konservativer. Alle huldigten dem Glauben an den «freien Markt». Viel zu spät ordnete Bern die Rationierung von Grundnahrungsmitteln wie Milch und Butter an. Die Gewerkschaften stiessen mit ihren Forderungen (Kohle für die Heizung, günstige Milch für die Kinder) weitgehend auf taube Ohren. Als sie mit Streik drohten, witterte der Bundesrat einen «bolschewistischen Umsturz». Seit der Oktoberrevolution von 1917 in Russland sass dem ganzen Bürgertum die Angst vor den Kommunisten im Nacken. Der reaktionäre General Ulrich Wille liess Pläne zur Niederschlagung eines Aufstands ausarbeiten. Seither gilt der Landesstreik unter Rechten als russisch inspirierter Revolutionsversuch. Ein Mythos, der noch heute im Umlauf ist (siehe Spalte links).

3. MILIRARISTEN AM DRÜCKER

Armee- und Rechtskreise drängten den Bundesrat, keinesfalls nachzugeben. Notfalls wollten sie der Arbeiterbewegung mit Gewalt eine Lektion erteilen.

Tausende drohten zu verarmen, viele litten Hunger.

Und so kam es auch: Nach dem Streik der Bankangestellten in Zürich ordnete der Bundesrat im November 1918 die Besetzung von Zürich und Bern durch die Armee an. Noch bevor irgendein Generalstreik ausgerufen war. Die Kavallerie ritt ein, stellte Maschinengewehre auf und übernahm das Kommando. In Zürich regierte der «Linkenfresser» Oberst Emil Sonder­egger, der später ein Nazi-Sympathisant wurde. Er drohte der Bevölkerung gar mit dem Einsatz von Handgranaten. In Grenchen erschossen Soldaten die drei erwähnten Arbeiter. Erst achtzig Jahre später stellte die Stadt eine Gedenktafel für diesen lange tabuisierten Dreifachmord auf.

4. STREIKFÜHRER GRIMM

STREIKFÜHRER: Robert Grimm spielte für den Landesstreik eine entscheidende Rolle. Rosa Bloch war die einzige Frau im Führungsgremium. (Foto: ZVG, Sozialarchiv)

Ohne Robert Grimm (1881–1959) hätte es den Landesstreik vielleicht nicht gegeben. Der bullige Arbeiterführer, Sozialist, «Tagwacht»-Redaktor und SP-Nationalrat war ein Draufgänger. Eigenmächtig stellte er das Oltner Aktionskomitee (OAK) auf die Beine und machte es zur Streikleitung. In diesem Männergremium war als einzige Frau Rosa Bloch vertreten. Sie war die Organisatorin der Hungerdemos in Zürich. Und musste nach kurzer Zeit ihren Sitz auch wieder räumen: für einen weiteren Mann. Grimm war aber kein Revolutionär wie Lenin. Dessen radikale Ideen zur Machtergreifung lehnte er ab. Er wollte nur einen befristeten Proteststreik, wurde dann aber von den ­Ereignissen überrollt. Arbeiter im aufgeputschten Zürich riefen den unbefristeten Streik aus, das OAK musste nachziehen. So kam es vom 12. bis zum 14. November 1918 zum Landesstreik. Die Forderungen zielten nun nicht mehr bloss auf Kohle und Milch, sondern weit fundamentaler auf den Achtstundentag, das Frauenstimmrecht und die AHV. Gewerkschaftsbundspräsident Paul Rechsteiner sagt: «Der Landesstreik hat das Programm des Fortschritts für das 20. Jahrhundert geschrieben.»

5. GEGENREVOLUTION VON RECHTS

Der Generalstreik fuhr den Bürgerlichen in die Knochen. Arbeitgeber schlossen sich zusammen. Patrioten und rechtsnationalistische Kreise formierten sich zum Vaterländischen Verband (VV). Sie bildeten bewaffnete Bürgerwehren, bespitzelten Linke und schwärzten sie bei den Arbeitgebern an. Polizei und Behörden machten mit dem VV gemeinsame Sache gegen links, das belegt Historiker Andreas Thürer. Und die vormals liberale Ausländerpolitik wurde plötzlich restriktiv. Die «Gegenrevolution» von rechts rollte an. Doch eines konnte sie nicht verhindern: soziale Reformen, für die der Generalstreik der Motor war.

Alle Infos zum Landesstreik und zu den Aktivitäten im Gedenkjahr auf: generalstreik.ch.

1 Kommentare

  1. ROLAND MARC NOIRJEAN 19. August 2018 um 19:58 Uhr

    Ihr Bericht ist interessant. Muss Ihnen aber mitteilen,
    dass Marius Noirjean Jahrgang 1900 hatte und somit 18 Jahre alt war (nicht 29). Auch war er kein Streikender,
    sondern wollte nur für die kranke Mutter in der Droguerie Lenzinger Medikamente holen, da die spanische Grippe auch in Grenchen herrschte. Damals wie heute gab es auch schon „fake news“. Es gab nie eine Entschuldigung für das Verbrechen, deshalb blieb es auch ein Tabu für unsere Familie. Wenigstens eine
    Gedenktafel dank der Unia, Paul Rechsteiner und Boris Banga. Marius Noirjean wäre mein Onkel gewesen.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.