Wenn wir unsere Geschichten nicht kennen, kennen sie andere für uns – und machen daraus, was sie wollen. Zum Beispiel beim Landesstreik 1918. Oder beim Frauenstreik von 1991.
Calanda: ein Bier, ein Bündner Berg und ein Losungswort im Landesstreik 1918.
Während meiner ganzen Jugend hatte ich den Calanda vor meiner Nase, einen der hässlichsten Berge Graubündens. Jetzt weiss ich, dass «Calanda» im Landesstreik das Losungswort der Eisenbahner für den Streikabbruch war. Warum sie ausgerechnet diesen Berg wählten, konnte mir bisher niemand sagen. Aber seither ist jede Rückkehr nach Chur mit dem Landesstreik verbunden. Wenn das meine Lehrer von damals (alle männlich) wüssten, die sich so geflissentlich bemühten, uns auf dem Wissensstand des Rütlischwurs zu halten!
Dore Heim, Historikerin und SGB-Zentralsekretärin, hat die Landesstreik-Tagung organisiert, die kürzlich in Bern stattfand.
WEISSE FLECKEN. Der Landesstreik von 1918 ist eines der gewaltigsten politischen Ereignisse in der Geschichte der Schweiz. Er hatte weitreichende Folgen und ist heute so gut wie unbekannt. Würden wir Leute danach fragen, die die Schulzeit hierzulande absolvierten, viele würden sagen: «Nie stattgefunden!» Na und, könnten wir nun fragen: Was ändert das an meinem Leben? Die simple Antwort: Alles! Denn ohne Geschichte kann sich niemand im Hier und Jetzt zurechtfinden. Niemand weiss das besser als unterdrückte, kolonialisierte Völker, denen man ihre eigene Geschichte geklaut hat. Und niemand weiss das eindrücklicher als die Frauen, die immerhin die Hälfte der Menschheit ausmachen, aber die längste Zeit in der Geschichtsschreibung gar nicht vorkamen.
Geschichtsschreibung besteht zu einem grossen Teil aus ungeschriebener oder falsch geschriebener Geschichte, sie hat jede Menge weisser Flecken. Der Landesstreik ist in den vergangenen hundert Jahren so ein Flecken gewesen: den Linken irgendwie unbehaglich und von den Rechten bis heute verunglimpft. In der Darstellung der Rechten war der Landesstreik nicht der legitime Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen und für mehr politischen Einfluss. Sie beschrieben ihn als vereitelten Umsturzversuch von Sozis und Kommunisten, die aus Russland gesteuert waren.
WIECHE KNIE. Wenn wir unsere Geschichten nicht kennen, kennen sie andere für uns. Und sie schreiben sie auch. So, wie es ihnen gefällt. Das ist fatal. Und deshalb hat der Landesstreik mit uns zu tun. Mit dem Frauenstreik von 1991 zum Beispiel: Die Gewerkschafterinnen um Christiane Brunner hatten sich damals auch vom wagemutigen Landesstreik inspirieren lassen. Und ihre Kollegen im Gewerkschaftsbund bekamen damals vermutlich auch deshalb weiche Knie. Aber das ist nun vielleicht schon wieder eine falsche oder jedenfalls einseitige Geschichtsschreibung …
Jedenfalls war der Frauenstreik damals, vor 26 Jahren, mein Einstieg in die Gewerkschaftsbewegung. Wer weiss, ob ich sonst noch dabei wäre – vermutlich würde dies manch andere Feministin meiner Generation auch sagen. Es war eine prägende Erfahrung und eine Erinnerung, die wir Frauen pflegen. Eben, wer die eigene Geschichte nicht kennt…