Am historischen Frauenstreik 2019 gingen über eine halbe Million Menschen auf die Strasse. Auch der 14. Juni 2023 setzte ein starkes Zeichen. work hat zwei Verkäuferinnen getroffen und mit ihnen über die Wirkung der lila Welle gesprochen.
AM FRAUENSTREIK DABEI: Detailhändlerinnen Maryam Goudarzi (35) und Kara Diggelmann (28). (Fotos: Keystone / Lea Spörri)
Maryam Goudarzi (35) arbeitet als Verkäuferin im Detailhandel. 2023 konnte sie nicht am Frauenstreik teilnehmen, weil sie arbeiten musste. Doch dieses Jahr hat sie sich den ganzen Tag freigenommen und wird am 14. Juni mit anderen Aktivistinnen der Unia auf die Strasse gehen. Goudarzi sagt: «Wir müssen den Frauenstreik noch viel grösser machen, denn es gibt weiterhin sehr viele Gründe für unseren Protest: zu tiefe Löhne und miserable Frauenrenten, Belästigung, fehlender Respekt und Diskriminierung bei der Arbeit.»
Auch Kara Diggelmann (28) wird dieses Jahr beim Frauenstreik dabei sein. Sie arbeitete in verschiedenen Jobs Teilzeit im Verkauf, im Kino oder auch als Glaceverkäuferin. Mit der Unia-Jugend war sie bereits beim legendären Frauenstreik im Jahr 2019 mit dabei. Diggelmann sagt: «Im Vorfeld des Streiks haben wir Flyer an die Verkäuferinnen in den Läden verteilt, bis uns der Sicherheitsdienst rausschmiss. Dann wussten wir, dass wir einen guten Job für die Mobilisierung gemacht haben.»
Der Laden, in dem Goudarzi arbeitet, ist von 6 Uhr morgens bis 23 Uhr geöffnet. Als Kassierin muss sie immer eine Viertelstunde vor ihrem offiziellen Arbeitsbeginn um 14 Uhr dort sein, um noch das Geld in ihrer Kasse zu zählen. «Das sind so kleine Dinge, aber über die Woche arbeite ich mehr als eine Stunde zusätzlich, ohne dass ich dafür bezahlt werde.»
CHEFS BEVORZUGEN WEITERHIN MÄNNER
Goudarzi kam vor etwas mehr als zehn Jahren in die Schweiz: «Als Ausländerinnen und Ausländer werden wir trotz Ausbildung in unserem Heimatland als Ungelernte angestellt, das bedeutet weniger Lohn, aber eigentlich arbeiten wir genau gleich wie die Gelernten.» Als Ausländerin müsse sie sich gleich doppelt wehren, um nicht benachteiligt zu werden. «Ich habe immer wieder gesagt, dass ich jetzt eine Ausbildung im Detailhandel machen möchte, aber mir scheint, dass die Chefs bei diesem Thema meine männlichen Kollegen bevorzugen.»
workzahl: 32,8 Prozent
tiefer als diejenigen der Männer fallen die durchschnittlichen Renten der Frauen in der Schweiz aus.
DER KUNDE IST KEIN KÖNIG MEHR
Für Diggelmann und Goudarzi ist die Arbeit im Detailhandel auch eine Herausforderung, weil so viele unterschiedliche Leute und Ansprüche zusammenkommen. Goudarzi sagt: «Man muss innerhalb des Teams einen guten Umgang finden, aber auch mit den Vorgesetzten und natürlich mit den Kundinnen und Kunden.» Diggelmann findet das von den Chefinnen und Chefs oft gepredigte Motto «Der Kunde ist König» völlig überholt und für die Frauen im Detailhandel besonders problematisch: «Dumme Kommentare der Kundschaft oder im schlimmsten Fall sexuelle Belästigungen müssen wir dann einfach hinnehmen, aber eigentlich müssten wir das melden können.»
VOM PROTEST IN DEN GAV
Die beiden Frauen sagen, dass die feministischen Forderungen auch in Gesamtarbeitsverträge einfliessen sollten, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten. Zum Beispiel konkrete Massnahmen gegen sexuelle Belästigung. So könne der Frauenstreik vom lautstarken Protest auch zu konkreten Verbesserungen für die vielen Frauen mit tiefen Löhnen und Diskriminierungserfahrungen führen. Für Diggelmann ist der Frauenstreik auch immer ein guter Moment, um Ängste abzubauen, Selbstvertrauen zu gewinnen und ein Gruppengefühl zu schaffen. Diggelmann sagt: «Auch wenn in den letzten fünf Jahren viele feministische Ideen zum Mainstream geworden sind, bleibt unsere Kultur sehr individualistisch und patriarchal geprägt.»
GLEICHER LOHN FÜR GLEICHE ARBEIT
Maryam Goudarzis Hauptanliegen am diesjährigen Frauenstreik ist die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit. «Manche Feministinnen übertreiben es, wenn sie nur für Frauen und gegen Männer sind. Damit kann ich mich nicht identifizieren, aber ich finde, dass wir den gleichen Lohn wie die Männer verdient haben.» Zudem möchte Goudarzi frauenspezifische Themen, zum Beispiel Schmerzen und hormonelle Schwankungen beim Menstruationszyklus, noch mehr in die Debatte einbringen. Kara Diggelmann will mit dem Frauenstreik kulturelle und arbeitsrechtliche Forderungen zusammenbringen. «Als Feministin stehe ich ein für gleiche Rechte für Frauen und Männer und kämpfe gegen das patriarchale System, das weiterhin Geschlechterrollen zum Nachteil der Frauen erzwingt.»