Historikerin Francesca Falk über Pionierinnen und putzende Männer
Wie italienische Migrantinnen das Kitasystem revolutionierten

Historikerin Francesca Falk (47) weiss: ­Migrantinnen haben in der Schweiz viel für die Frauenrechte bewirkt. Ihren ­Kämpfen haben wir das heutige Kitasystem zu ­verdanken.

work: Frau Falk, waren die Migrantinnen der Schweiz einen Schritt voraus?
Francesca Falk: Die italienische Migration prägte die Schweiz in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sehr stark. Einige soziale und politische Rechte der Frauen hat Italien früher etabliert. Zum Beispiel die Mutterschaftsversicherung, den Grundsatz der Geschlechtergleichheit und natürlich das Frauenstimmrecht, das Italien bereits nach dem Zweiten Weltkrieg einführte. Auch in Bezug auf das Eherecht gab es Unterschiede. Hierzulande brauchten Frauen bis 1976 die Erlaubnis des Ehemannes, wenn sie berufstätig sein wollten. Bei sogenannten Gastarbeiterfamilien waren bereits in den 1960er Jahren in der Schweiz oft beide Elternteile berufstätig, weil ein einziges Einkommen nicht für die gesamte Familie reichte.

Was hat das alles mit der Kinderbetreuung zu tun?
Aufgrund ihrer Erwerbsarbeit und fehlender familiärer Netze waren migrantische Familien stärker auf Krippenplätze angewiesen. Um die Nachfrage der Schweizer Wirtschaft nach ausländischen Arbeitskräften in der Zeit des Wirtschaftsbooms nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur ersten Ölpreiskrise 1973 stillen zu können, wurde das Netzwerk von Kindertagesstätten ausgebaut. So gründete etwa die Missione cattolica eigene Krippen. Auch Industriebetriebe wie etwa die Rohner-Socken-Fabrik in Balgach SG kümmerte sich um die Betreuung des Nachwuchses ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter.

Warum war die ausserfamiliäre Kinder­betreuung in der Vergangenheit bei vielen Schweizerinnen und Schweizern so verpönt?
Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon war der Kalte Krieg. Mit den Fronten «Ost gegen West» erhielten Kitas ein kommunistisches Image. Die Schweiz war in dieser Zeit sehr antikommunistisch, und das trug zur negativen Wahrnehmung der Krippen bei. Zudem wurde externe Kinderbetreuung auch wissenschaftlich diskreditiert. Der bekannte US-Kinderpsychiater John Bowlby behauptete um 1944, dass eine zerrüttete Mutter-Kind-Bindung die Hauptursache für jugendliche Kriminalität sei.

Gab es auch Stimmen für die externe Kinderbetreuung?
Ja, bereits im Jahr 1870 wurden erste Kinderkrippen in Basel eröffnet, was zeigt, dass es damals schon Befürworter gab. So auch der Berner Arzt Theodor Hermann. Er argumentierte bereits 1849, dass die externe Betreuung den Zusammenhalt zwischen Mutter und Kind nicht negativ beeinträchtige, weil die Kinder nur tagsüber in der Krippe seien. Dieser Arzt ist vielleicht nicht repräsentativ für das 19. Jahrhundert. Aber ein Beispiel dafür, dass es Stimmen gab, die die externe Kinderbetreuung positiv sahen. Die Idee, Krippen als Chance für alle Gesellschaftsschichten anzuerkennen, verbreitete sich aber erst später.

Wann?
In der Nachkriegszeit herrschte in der Schweiz die Vorstellung, dass eine Familie alleine vom Vater ernährt wird. Dies konnten sich die Familien bis in die Mittelschicht leisten. Doch das begann sich gegen Ende der 1960er Jahre zu ändern. Im Nachgang der 68er Bewegung entstand die sogenannte neue Frauenbewegung, die sich für eine andere Rollenteilung zwischen den Geschlechtern einsetzte. Zum anderen gingen die beiden Ölpreiskrisen in den 1970er Jahren auch an der Schweizer Wirtschaft nicht spurlos vorbei. Schliesslich entstand auch ein Begriffswandel: Man sprach nicht mehr von Kinderkrippen, sondern von Kitas. Es kam zu einem Imagewechsel dieser Betreuungsinstitutionen, sie wurden für die Mittel- und Oberschicht ­salonfähig. Das geht auf eine Allianz von verschiedenen Interessen zurück. Darunter auch der Wirtschaftsverbände, die immer mehr auf die Ressource «Frau» zurückgreifen wollten.

Reinigerin Maria Antonietta Fredas Kind wurde direkt nach der Entbindung in einem Heim zwangsversorgt. Kennen Sie noch mehr solch grausame Geschichten?
Migrantische Familien mussten neben der richtigen Aufenthaltsbewilligung auch über genügend Wohnraum verfügen, um als Familie in der Schweiz zusammenleben zu können. So kam es, dass Kinder etwa in der Herkunftsregion bei den Grosseltern lebten, in der Schweiz versteckt oder in Heimen platziert wurden, etwa in Domodossola, damit über das Wochenende Besuche möglich waren. Die Zwangsplatzierung von Kindern migrantischer Familien in Schweizer Heimen ist historisch noch wenig erforscht. Die Archive der Behörden widerspiegeln zudem oft ihre Sicht. Deshalb ist es so wichtig, Zeitzeuginnen zuzuhören.

Und was sagen diese Zeitzeuginnen?
Die Lebensrealitäten waren prekär. Sie standen zuweilen um 4 Uhr morgens auf, arbeiteten in der Fabrik und kümmerten sich um den ganzen Haushalt. Das sind wahnsinnig anstrengende Arbeitstage. Hinzu kommt: Man kümmerte sich nicht um ihre Integration, sie mussten sich den Zugang zu den Sozialversicherungen erkämpfen, und oft trennte man sie von ihren Familien. Ihr Leben war sehr stark auf die Erwerbsarbeit ausgerichtet. Für alles andere blieb wenig Zeit. Diese migrantischen Frauen waren zugleich insofern Pio­nierinnen, weil sie eine «modernere Art» des Familienlebens führten.

Sie sprechen von einem moderneren ­Familienleben. Inwiefern?
Oft waren beide Ehepartner berufstätig, und es gab nicht immer diese vorgefestigten Muster, wer was machen soll. Die meiste Care-Arbeit erledigten zwar die Frauen. Aber es gab auch Fälle, in denen diese gleichberechtigter aufgeteilt wurde. Oder die Männer, die alleine in die Schweiz kamen, mussten wohl oder übel selber kochen und putzen, was sie dann zuweilen auch noch gemacht haben, als ihre Familie nachzog.

Wer arbeitet heute in den Kitas?
Grösstenteils Frauen. Männer, die sich für einen solchen Beruf entscheiden, haben oft eine Migrationsgeschichte. Das finde ich bemerkenswert, weil diesen Jugendlichen selbst oft ein Macho-Image zugesprochen wird. Jugendliche aus zugewanderten Familien haben oft schlechtere Chancen bei der Lehrstellensuche. Das wiederum ­erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine Ausbildung in einer schlechtbezahlten Branche wählen müssen. Durch Migration wird diese geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ein Stück weit wieder verändert. Dabei überschneiden sich Privilegien mit Diskriminierungen. Und es entsteht die Möglichkeit, Geschlechterrollen aufzubrechen.

Pflege, Reinigung, Gastgewerbe – warum sind viele Migrantinnen in schlechtbezahlten Branchen berufstätig, die indirekt etwas mit Care-Arbeit zu tun haben?
Migrantinnen haben Hindernisse beim Zugang zu besserbezahlten Berufen. Beispielsweise, weil ihre Diplome nicht anerkannt werden. Oder weil es mit einem bestimmten Namen schwieriger ist, eine Stelle zu finden. Die schlechte Bezahlung in den genannten Branchen hängt damit zusammen, dass es typische Frauenberufe sind. Untersuchungen zeigen, dass Berufe einen Prestigeverlust erfahren, sobald mehr Frauen in diesem ­Beruf arbeiten. Der ganze Care-Bereich ist stark von Frauen geprägt, und das schlägt sich auf den Lohn nieder.

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