Kritik nach tödlichem Chemie-Unfall in Luterbach SO
Wie gefährlich ist die Pharmafabrik Biogen?

Ein Arbeiter von Biogen stirbt nach einem schweren Unfall mit Natronlauge. Jetzt attackiert die Gewerkschaft FAU den US-Multi frontal, denn sie hatte schon 2021 Alarm geschlagen. Und ein Insider packt aus.

KONFLIKT: Bereits 2021 demonstrierten etliche Reinigungsangestellte gegen die Missstände bei Biogen. (Foto: fauunion.ch)

Es geschah am Montagnachmittag des 24. Juni auf dem Gelände der US-Pharmafirma Biogen in Luterbach SO. Arbeiter Ali Şahin* (59) nimmt die Lieferung von neuer Natronlauge entgegen. Die hochgiftige Chemikalie wird von einem LKW in einen grossen Reservetank gepumpt. Dazu muss jeweils extra ein Schlauch am Tank montiert werden. Und dann passiert es. Der Tank kommt in Schräglage und stürzt. Arbeiter Şahin wird dabei zu Boden gerissen und unter dem Tank eingeklemmt. Sofort eilen Kollegen herbei und versuchen den Verunfallten zu bergen. Doch der Tank wiegt zu schwer. Die Kollegen versuchen es mit einem Gabelstapler. Verheerend: Denn beim Anheben bohren sich die Gabelzinken in den Tank, Natronlauge läuft aus und veräzt den eingeklemmten Şahin schwer. Ein Reanimationsversuch scheitert, die Verbrühungen sind zu schwer, der Familienvater stirbt noch an Ort und Stelle. Drei weiter Arbeiter, die sich ebenfalls an der Lauge verätzt haben, werden notfallmässig ins Spital eingeliefert. So berichtet es ein Insider exklusiv gegenüber work.

Heute, zwei Wochen nach der Trägodie, sitzt der Schock noch immer tief in Luterbach. Die Staatsanwaltschaft und das Arbeitsinspektorat haben Ermittlungen aufgenommen. Eines ist aber schon jetzt klar: Es ist der schwerste, aber keineswegs der erste Unfall am 2021 eröffneten Produktionsstandort.

Blutige Nasen und Husten

Enver Kristo* hat einst selbst in der Medikamentenfabrik gearbeitet – auch mit Ali Şahin. Ihn hat Kristo in bester Erinnerung:

Ali war immer gut drauf und ein fleissiger, hilfsbereiter Kollege!

Besonders traurig stimme ihn, dass Familienvater Şahin nur deshalb bei Biogen angefangen habe, weil er nach dem überraschenden Aus seines früheren Arbeitgebers bloss Absagen erhalten habe (siehe Artikel unten).

«Aber ich bin auch wütend!» sagt Kristo zu work, «wütend auf diesen Konzern!» Überraschend komme die Tragödie für ihn nämlich nicht. Schliesslich habe er bei Biogen oft Unfälle gesehen – auch solche mit Natronlauge: «Die Reinigungsleute haben sich damit immer wieder die Haut verätzt.» Nasenbluten und blutiger Husten sei ebenfalls verbreitet gewesen. Er selbst habe die Lauge damals bei Desinfektionsarbeiten einsetzen müssen. Biogen-Sprecherin Katja Buller bestätigt auf Anfrage den Verwendungszweck: «Natronlauge stellt sicher, dass sich keine Produktreste in unseren Rohrleitungssystemen und Tanks befinden, bevor ein neuer Herstellungsprozess gestartet wird.»

Für Kristo sind aber nicht die Chemikalien das Hauptproblem, schliesslich mache Biogen dazu regelmässige Schulungen. Viel mehr lauere die Gefahr beim Produktionsdruck. So sei es bei Biogen aus Sicherheitsgründen zwar verboten, allein zu arbeiten. Doch in der Praxis habe das nicht funktioniert. «Immer wieder mussten wir schnell, schnell etwas allein hantieren», sagt Kristo. Das grösste Problem liege indes beim Management und bei dessen Umgang mit Kritik.

Ex-Arbeiter: «Hexenjagd» auf Gewerkschafter

Kristo verweist auf einen Arbeitskonflikt, der ziemlich genau drei Jahre zurückliegt. Damals schlossen sich etliche Reinigungsangestellte des Biogen-Subunternehmens Enzler den Basisgewerkschaften Freie Arbeiter:innen Union (FAU) und Industrial Workers of the World (IWW) an. Vor den Werkstoren und in der Stadt Solothurn gab es Demonstrationen. Dabei kritisierten FAU und IWW eine ganze Reihe von Missständen – darunter auch schlechte Schutzausrüstungen und zu hohe Unfallzahlen.

Die Gewerkschaften verlangten ein Gespräch mit Biogen. Doch davon wollte der US-Konzern, der keinem Gesamtarbeitsvertrag untersteht, nichts wissen. Laut der FAU soll Biogen sogar «Union-Busters» aus den USA eingeflogen haben, also Experten zur Gewerkschaftsbekämpfung. Ex-Arbeiter Kristo sagt: «Es gab eine regelrechte Hexenjagd gegen aktive Kolleginnen und Kollegen!» An Einstellungsgesprächen sei zudem plötzlich gefragt worden, ob man Mitglied einer Gewerkschaft sei.

In einer neuen Medienmitteilung von Ende Juni setzt die FAU sogar noch eins drauf:

Zum Teil wurden Unfälle nicht erfasst, weil die Arbeitenden unter Druck gesetzt wurden, diese nicht zu erfassen.

Auch seien Gewerkschaftsmitglieder, die sogenannte «near misses», also Beinaheunfälle, dokumentiert hätten, «auf direkten Wunsch von Biogen entlassen» worden.

Biogen: «Keine Vorschriften verletzt»

Biogen widerspricht dieser Darstellung. Die Medienmitteilung der FAU enthalte «falsche Informationen» und «irreführende Aussagen». So sei «die Angelegenheit betreffend unseren Reinigungsdienstleister» 2021 von der Suva und dem Solothurner Arbeitsinspektorat untersucht worden. Dabei seien keine Verletzungen von «Arbeitsvorschriften» festgestellt worden. Da der Untersuchungsbericht nicht öffentlich ist, lässt sich diese Aussage nicht überprüfen. Marc Hänni, Leiter des Solothurner Arbeitsinspektorats, schreibt auf Anfrage bloss, damals sei «der Infrastrukturbereich» im Fokus der Kontrolle gestanden. Und: «Diverse Massnahmen wurden bereits umgesetzt.» Biogen stellt sich aber ohnehin auf den Standpunkt, dass der tödliche Unfall vom 24. Juni «in keinem Zusammenhang» stehe mit den damaligen Ereignissen.

Viele offene Fragen

Was aber ist dran an den Vorwürfen, Biogen habe eine Union-Busting-Firma engagiert und eine «Hexenjagd» gegen Gewerkschaftsmitglieder betrieben? Biogen verneint beides nicht explizit, sondern sagt bloss, man pflege «ein integratives Umfeld» und die Rechte der Arbeitnehmenden würden «respektiert». Auch keine Antwort gibt es auf die Frage nach der Zahl der Unfälle, die in den vier ersten Betriebsjahren bereits verzeichnet worden sind.

Wenigstens etwas konkreter wird der Konzern in Bezug auf die Leidtragenden des 24. Juni: Die Familie des Verstorbenen werde «weiterhin unterstützt», die drei Verletzten seien «auf dem Weg der Besserung», und allen betroffenen Mitarbeitenden werde emotionale Unterstützung und Beratung angeboten.
Für Enver Kristo ist das allerdings kein Trost. Er glaubt, der Unfall wäre vermeidbar gewesen: «Ich kenne den betreffenden Tank, das Umfüllen dort liesse sich viel einfacher und vor allem sicherer gestalten.» Das wisse niemand besser, als jene Arbeiter, die dort zu tun hätten. Bloss sei das Betriebsklima von Verunsicherung geprägt, niemand traue sich, etwas zu sagen. Für Kristo ist klar: «Hätten die Leute eine Gewerkschaft, könnte diese solche Inputs beim Management einbringen.» Biogen-Frau Buller widerspricht: «Wir haben eine etablierte Arbeitnehmervertretung. Die Mitglieder des Führungsteams treffen sich regelmässig mit ihnen.»

* Namen geändert

Tragisch. Wegen drohender Arbeitslosigkeit sah er Biogen als Rettungsanker. 2017 erzählte Ali Şahin* der «Berner Zeitung» seinen Werdegang – und seine Zukunftspläne:

«Die Lehre habe ich in der Papierfabrik Biberist absolviert. Danach bin ich nach Utzenstorf gekommen (…). Ich wollte ein paar Jahre im Betrieb bleiben, Geld verdienen und dann weggehen. Nach 36 Jahren bin ich immer noch da. Ich kenne nichts anderes, nur Papier. Ich habe ein Berufsleben lang nur das gemacht.

Ich hatte verschiedene Posten in der Fabrik, liess mich weiter zum Industriemeister ausbilden. Seit 2007 bin ich Schichtleiter, also Werkführer. (…) Wir hatten einen Siebentagerhythmus, drei Schichten pro Tag. Das Abstellen und Anlassen der Maschinen ist sehr aufwendig. Still standen sie nur vier oder fünf Tage im Jahr während der Saure-Gurken-Zeit.

Als ich von der Schliessung erfuhr, war ich schockiert, wollte es nicht wahrhaben. Aber völlig unerwartet kam es nicht. Wir wussten, dass die Fabrik irgendwann zugeht, haben nur nicht gedacht, dass es dermassen schnell geht. Wir waren letzthin immer voll ausgelastet. Und es schien besser zu gehen als noch 2015, als die ‹Papieri› schon nahe am Abgrund stand, weil der Euromindestkurs aufgehoben wurde. Die Mitarbeiter stimmten gar einer Lohnreduktion zu. Es war hart, aber man gewöhnte sich daran. Ich habe gehofft, dass es eine Lösung gibt mit der Zeit.

Doch es ging nicht mehr. Also machte ich mich auf die Suche nach einer neuen Arbeit, bewarb mich auf verschiedene Stellen. Zu Beginn erhielt ich nur Absagen, Absagen, Absagen. Ich war demotiviert, habe aber nicht aufgegeben. Dann, im Oktober, traf endlich eine Zusage ein, ja sogar zwei Zusagen. Ich war glücklich, einen Job zu haben. Erleichtert. Ab Januar kann ich bei Biogen in Luterbach arbeiten. Dort, am Emmenspitz, plant der US-Biotechkonzern ein grosses Projekt. (…) Ich lasse mich überraschen, was auf mich zukommt.»

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