Unia-Fachtagung
80 Pflegende, Senioren und Forscherinnen diskutierten Wege aus der Pflegekrise

Ein menschenwürdiges Leben im Alter: Das Unia-Manifest für gute Pflege entwirft Strategien, um dieses Ziel zu erreichen. Am 31. August haben es die Teilnehmenden der Pflege-Fachtagung intensiv diskutiert und schliesslich einstimmig verabschiedet.

GROSSES INTERESSE: Pflegefachfrau und SP-Nationalrätin Farah Rumy spricht an der Fachtagung zum Publikum. (Foto: Florian Bachmann)

Die Pflegehelferin Salomé Luisier bringt es auf den Punkt: «Was wir hier besprechen, betrifft nicht einzelne Gruppen. Sondern jeden und jede von uns.» Denn, so die 56jährige zu work:

Früher oder später werden wir alle alt und brauchen Pflege oder Unterstützung im Alltag.

Zusammen mit über 80 Teilnehmenden aus Pflege, Wissenschaft und Politik sowie Seniorinnen und Senioren geht Unia-Mitglied Luisier am 31. August nicht in die Badi oder die Berge, sondern ins Stadttheater Olten. Dort wird engagiert debattiert, wie man gemeinsam die Langzeitpflege aus der Krise führen könnte. Grundlage ist das «Manifest für gute Pflege», welches eine Gruppe von rund 20 Berufsleuten aus Alters- und Pflegeheimen gemeinsam mit der Unia erarbeitet hat. Jetzt bringen die Teilnehmenden letzte Änderungen ein und verabschieden dann den Text einstimmig (siehe Box unten). 

Sie wissen, was es braucht

Die Diskussionen zeigen: Die Pflegenden wissen ganz genau, was es braucht. Zum Beispiel eine zentrale Informationsstelle für Angehörige von älteren Menschen, wenn diese Pflege nötig haben, sagt eine von ihnen. «Genau!», ruft Karin van Holten. Die Wissenschafterin der Berner Fachhochschule hat zusammen mit Nicolas Pons-Vignon von der Fachhochschule Südschweiz in den letzten Monaten mehrmals das Manifest an den Input der Gruppe angepasst. Schon vor 20 Jahren, sagt sie jetzt, sei eine solche Anlaufstelle gefordert worden, «und es gibt sie immer noch nicht! Das ist heute nötiger denn je.»

Dreh- und Angelpunkt jeder besseren Pflege ist das System der Finanzierung. Das sagt Pflegehelferin Salomé Luisier, und das macht auch das Manifest deutlich. Die heutige Abrechnung nach genau bemessenen Leistungen werde dem Leben nicht gerecht, sagt Luisier:

Jemand braucht an einem Tag vielleicht mehr Körperpflege, am nächsten Tag dafür mehr Umarmungen.

Salomé Luisier. (Foto: Florian Bachmann)

Was ins Zentrum einer guten Pflegefinanzierung gehört, ist deshalb für Luisier klar: «Die Bedürfnisse der Menschen. Und sicher nicht der Gewinn der Firma, die das Heim führt.»

Ein solcher Umbau stärkt auch die Autonomie der Pflegenden und anerkennt ihre Kompetenzen. Von einem ersten Erfolg in diese Richtung berichtete SP-Nationalrätin Farah Rumy, Pflegefachfrau und Berufschullehrerin: Seit dem 1. Juli dürfen nämlich Pflegefachpersonen bestimmte Leistungen direkt mit den Krankenkassen abrechnen, ohne ärztliche Verordnung. Zusammen mit der gleichentags gestarteten «Ausbildungsoffensive» haben Bundesrat und Parlament bisher zwei der Aufträge umgesetzt, welche seit Annahme der Pflegeinitiative 2021  in der Bundesverfassung stehen.

Der Bundesrat muss liefern

Das direkte Abrechnen mit den Kassen sei ein längst fälliger Schritt, sagt Rumy zu work:

Wir Pflegende wissen, was unsere Arbeit ist. Es muss mir kein Arzt verordnen, dass ich dieser Person jetzt Stützstrümpfe anziehen muss.

Farah Rumy. (Foto: Florian Bachmann)

Zentral für die Pflegenden ist aber ein Auftrag der Initiative, der noch nicht umgesetzt ist: Bessere Arbeitsbedingungen. Die Vernehmlassung dazu ist soeben zu Ende gegangen; auch rund 100 Unia-Mitglieder haben sich daran beteiligt (work berichtete). 

Für Rumy ist unbestritten, dass die Pflege bessere Löhne, kürzere Arbeitstage und bessere Dienstpläne braucht. Genau wie die Pflegenden in der Unia bemängelt sie aber, dass der Bundesrat in der Vorlage die Finanzierung ausklammert: «Solange er diese Frage nicht klärt, werden die Arbeitsbedingungen bleiben, wie sie sind. Und das kann es nicht sein. Denn es steht jetzt in der Verfassung, dass sie besser werden müssen.»

Pflege-Manifest: Eine mutige Vision der Pflegenden

Das Manifest für eine gute Pflege, das am Wochenende einstimmig beschlossen wurde, beinhaltet mehrere Teile. So etwa eine Analyse, woran das heutige System krankt, mögliche Schritte, die man jetzt einleiten müsste und die Vision einer guten Pflege für die Schweiz. Diese Vision gibt work hier in gekürzter Version wider:

«Im Jahr 2035 hat die Schweiz die beste Langzeitversorgung der Welt. Niemand hat mehr Angst vor dem Alter oder dem Pflegeheim. Im Gegenteil: Wir wissen, dass es ein Ort ist, an dem wir gut behandelt und versorgt werden.

Care-Arbeit gilt als tragende Säule der Gesellschaft und wird entsprechend geschätzt. Ihre Finanzierung erfolgt über eine neue nationale Vermögenssteuer. Diese ist unumstritten. Denn es ist anerkannt, dass eine hochwertige Versorgung für alle auf Solidarität beruht. Sie ist kein Luxusgut für Reiche.

In Spitälern und Heimen ist festgelegt, wieviel Mitarbeitende mit welchen Qualifikationen es pro Patientin, pro Bewohner braucht. Diese Vorgaben werden eingehalten. Es gibt genügend Fachpersonal, denn die Arbeitsbedingungen sind hervorragend, die Gehälter attraktiv. Die meisten arbeiten Vollzeit. Die maximale Arbeitszeit beträgt 32 Stunden pro Woche.

Die Gewerkschaften sind als wichtige Unterstützerinnen anerkannt. Alle Care-Arbeiter:innen sind vereint. Wir werden als wichtig angesehen, egal ob wir Schweizer:in oder Ausländer:in sind, ob wir in Pflege, Betreuung oder Reinigung arbeiten. Weil diese Berufe eine hohe Wertschätzung geniessen, ist nicht mehr nötig, qualifiziertes Personal aus anderen Ländern abzuwerben.

Die Langzeitpflege wurde neu organisiert. Standardisierte Vorgaben wurden abgeschafft. Stattdessen können wir unsere Arbeit personenorientiert planen. Wichtige Entscheidungen treffen wir gemeinsam mit den zu Pflegenden und nach eingehender Diskussion im Team. 

Care-Teams bestehen aus verschiedenen Berufen. Ihre Kompetenz wird nicht in Frage gestellt. Unsere Autonomie ist die tragende Säule der neuen Langzeitpflege. Durch die so verbesserte Pflege- und Lebensqualität sind bei den Bewohner:innen akute Krisen deutlich seltener geworden – was wiederum dem Personal mehr Zeit verschafft.
Die Ausbildung der Fachkräfte hat sich dieser Entwicklung angepasst. Neu ist Beziehungskompetenz ein zentrales Element. Praktika sind wirklich Praktika. Sie dienen nicht der Überbrückung von Engpässen. 

Die Palliativpflege ist in die Langzeitversorgung integriert. Massnahmen zur Vorbereitung auf das Sterben und Sterbebegleitung verbessern das Leben, insbesondere am Lebensende. Niemand muss zum Sterben das Zuhause verlassen, um akute Palliativpflege zu erhalten.

Alle Bewohner:innen leben in angenehmen Unterkünften, wo sie in die Gesellschaft integriert sind. Sie leisten gemäss ihren Fähigkeiten einen Beitrag ans Zusammenleben. Die Fachkräfte machen das möglich. Das Engagement der Pflege geht damit weit über die Heime und Spitäler hinaus. Denn: Care und Solidarität gehören zu den neuen Leitprinzipien der Schweizer Gesellschaft.»

Das Manifest in voller Länge kann vorbestellt werden: gutepflege@unia.ch

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