Von den Eltern misshandelt und gedemütigt
«Meine Mutter war wie eine Doppelagentin»

Als die Eltern erfahren, dass Nora Fischer * eine lesbische Beziehung hat, rasten sie aus. Über ­Monate beleidigen und schlagen sie ihre minderjährige Tochter und kontrollieren sie auf Schritt und Tritt. Bis diese ins Mädchenhaus flüchtet. Das ist ihre Geschichte:

ZUFLUCHT: Rund 50 Mädchen und junge Frauen finden jedes Jahr Schutz im einzigen Mädchenhaus der Deutschschweiz, so wie die junge Frau im Bild. (Foto: Daniela Weber)

«Meine Eltern waren schon immer eher streng. Schlimm wurde es aber erst, als sie erfuhren, dass ich mit einem Mädchen in einer Beziehung bin. In ihren Augen war das eine Schande für die Familie. Ab da haben sie mich konstant beleidigt, beschimpft und angeschrien. Mein Vater hat mich auch geschlagen. Manchmal so stark, dass ich Verletzungen davontrug.

Sie wollten mir verbieten, meine Freundin zu treffen, ja sogar je wieder mit ihr zu sprechen. Daran habe ich mich nicht gehalten. Ich wusste immer, dass die Beziehung zu meiner Freundin etwas Gutes ist.

PARANOID

Von da an hatte ich Paranoia, dass sie mein Handy durchsuchen. Gemeinsam mit meiner Freundin habe ich das Handy ‹gesäubert› und viele Fotos gelöscht. Das finde ich bis heute sehr schade, dass ich all diese Erinnerungen nicht mehr habe. Meine Eltern liessen mir immer weniger Freiheiten und begannen, mich sehr stark zu kontrollieren. Ich durfte am Wochenende gar nicht mehr raus, nach der Schule nur sehr selten ein wenig draussen bleiben. Sie überprüften konstant den Standort meines Handys. Wenn sie mit meinem Aufenthaltsort nicht zufrieden waren, riefen sie mich dauernd an. Ich musste daher auch die Schule schwänzen, um Termine wahrzunehmen, etwa mit dem schulpsychologischen Dienst. Termine ausserhalb der Schulzeit hätten meine Eltern bemerkt.

VERRATEN

Sie glaubten mir nicht mehr, auch wenn ich Sachen zugab, und ich glaubte ihnen auch nicht mehr. Jede Sekunde, die sie mit mir hatten, war wütend. Sie drohten mir sogar, mich aus der Ausbildung zu nehmen. Die Auseinandersetzung war meistens mit meiner Mutter, aber immer mit der Angst, dass der Vater bald nach Hause kommt. Die Mutter war wie eine Doppelagentin. Wenn mich mein Vater schlug, hat sie immer so getan, als würde sie mich schützen. Gleichzeitig war sie aber auf der Seite meines Vaters und hat mich bei ihm verraten.

Das ging fast ein Jahr so. Ich habe öfter mit Freundinnen und Freunden darüber gesprochen, dass ich wegwollte. Doch ich wartete immer weiter ab, wie es zu Hause weitergeht. Bis an dem Tag, als ich fragte, ob ich nach der Schule noch draussen bleiben durfte. Sie erlaubten es nicht und schickten Sprachnachrichten mit Beleidigungen, dass ich nutzlos sei und so Sachen. In diesem Moment habe ich entschieden, dass ich von zu Hause weggehe, weil es sonst immer so weitergehen würde.

TRAURIG

Ich rief im Mädchenhaus an (siehe Artikel unten, Red.), und als ein Platz frei wurde, zog ich hier ein. Traurig war ich nur wegen meiner Geschwister, weil ich die nicht mehr sehen würde. Denn ich wusste, dass ich nicht wieder nach Hause gehen werde. Auch heute will ich das nicht. Meine Eltern wissen nur, dass ich an einem sicheren Ort bin – aber nicht, wo. Ich vermisse zwar die Idee einer Familie – aber so, wie sich meine Eltern ver­halten haben, das vermisse ich nicht.

Seit ich im Mädchenhaus bin, ist mein Leben besser geworden. Ruhiger. Ich kann wieder Leute treffen, ohne dass jemand meinen Standort überwacht. Ich muss mir keine Sorgen mehr machen, dass meine Eltern jeden Moment vorbeikommen können. Und vor allem: Wenn ich zurückkomme, stellt niemand in Frage, wo ich war. Und ich esse wieder viel mehr! Vorher habe ich viel Gewicht verloren, weil mein Appetit komplett weg war.

SELBSTÄNDIG

Ich muss jetzt schauen, wie es weitergeht. Die Ausbildung konnte ich auch vom Mädchenhaus aus fortsetzen. In ein paar Wochen werde ich von hier aus­ziehen, zusammen mit meiner Betreuerin ­besichtige ich derzeit ­verschiedene Wohn­gruppen. Ich bin zwar noch ein Teenager, aber ich muss es jetzt selbst auf die Reihe kriegen. Und ich finde es gut, dass ich die Entscheidungen treffe. Ich bin wahrscheinlich ein wenig früher selbständig als andere. Nicht finanziell, aber emotional.
Und das will ich bleiben, mit der Zeit auch finanziell. Meine Freundin und ich suchen derzeit einen Nebenjob. Vor allem will ich die Ausbildung abschliessen. Und später höchstwahrscheinlich studieren. Was, weiss ich noch nicht.»

* Zum Schutz der jungen Frau hat work ihren Namen geändert und nennt auch Alter und Art der Ausbildung nicht. Damit soll verhindert werden, dass ihre Eltern oder Verwandte sie erkennen und versuchen könnten, wieder Kontrolle über sie zu erlangen.


30 Jahre Mädchenhaus: Die Schweiz schützt Mädchen und Frauen zu wenig«Viele müssen zu Hause bleiben»

Immer mehr Mädchen und junge Frauen werden zu Hause Opfer von Gewalt. Doch zu ihrem Schutz gibt es heute gleich wenig Plätze wie vor 30 Jahren. Nämlich nur ­gerade sieben.

Maria Mondaca. (Foto: che)

Die Adresse ist geheim. Nur so kann das Mädchenhaus seine wichtigste Aufgabe erfüllen: Mädchen und junge Frauen zwischen 14 und 20 Jahren vor der Gewalt zu schützen, die ihnen die Eltern oder andere Verwandte angetan haben.

Das Haus in Zürich feiert dieses Jahr sein 30jähriges Bestehen. Jedes Jahr bietet es rund 50 Gewaltopfern Unterschlupf sowie Perspektiven für ein gewaltfreies Leben. Doch leider, sagt die Leiterin Maria Mondaca im Gespräch mit work, reiche dieses Angebot bei weitem nicht aus. Denn noch heute ist das Mädchenhaus mit seinen sieben Plätzen das einzige in der Schweiz. Obwohl die Zahl der Betroffenen Jahr für Jahr steigt: Gab es vor zehn Jahren laut offizieller Statistik 683 Opfer von häuslicher Gewalt unter 18 Jahren, so waren es im vergangenen Jahr 1051, also fast drei pro Tag.

«KEIN PLATZ, TUT UNS LEID»

Das Mädchenhaus ist rund um die Uhr telefonisch erreichbar. Und erhält laut Mondaca viel mehr Anfragen, als es Plätze hat: «Wir müssen eine Triage machen.» Wenn das Haus keinen Platz anbieten kann, übernimmt das Team zwar die Suche nach anderen Hilfsangeboten. «Aber viele müssen zu Hause bleiben, wo sie der Gewalt ausgesetzt sind. Das ist bitter.» Es bräuchte, so Mondaca, deutlich mehr als nur ein Mädchenhaus. «In Deutschland gibt es in jedem Bundesland vier bis fünf Anlaufstellen extra für junge Frauen!» Eine Studie des eid­genössischen Gleichstellungsbüros stellte 2022 fest: Es braucht in der Schweiz «mindestens 10 bis maximal 40» zusätzliche Schutzplätze für Mädchen und junge Frauen, also zwei bis sechs neue Unterkünfte.

SCHWEIZ VERLETZT IHRE PFLICHT

Die Schweiz hat 2017 die Istanbul-Konvention des Europarats unterzeichnet. Dadurch ist sie verpflichtet, genügend Schutzplätze für ­Opfer von häuslicher Gewalt bereitzustellen. Doch sieben Jahre später ist die Zahl der Plätze für Mädchen gleich tief wie damals. Ungenügend ist auch der Schutz von erwachsenen Opfern: Die Kapazität der Frauenhäuser ist nur ein Viertel dessen, was die Konvention verlangt (work berichtete).

Doch anstatt die Kantone auf konkrete Projekte für neue Häuser zu verpflichten, will der Bundesrat derzeit eine «Evaluation» der Kantone abwarten. Mondaca kritisiert:

Offensichtlich hat in der Politik ein gewaltfreies Leben für Frauen keine Priorität. Nicht mal für Kinder! Das ist tragisch.

maedchenhaus.ch, Tel. 044 341 49 45 (rund um die Uhr)

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.