Ausstellung «kolonial» im Landesmuseum
Eine Bombe im Landesbeton

Erstmals beleuchtet eine Ausstellung im Landesmuseum die koloniale Geschichte der Schweiz. Sie schafft dabei auch die Verbindung zwischen historischen Verbrechen und aktuellen Formen der Ausbeutung. 

KOLONIAL: Globale Verflechtungen der Schweiz, 13.9.24 – 19.1.2025, Landesmuseum Zürich, Museumsstrasse 2, Eintrittspreis 13 Franken (Foto: Landesmuseum Zürich)

Im Innenhof des Landesmuseums, unter dem Erweiterungsbau aus Beton, feiert eine führende Zürcher Steuerberatungsfirma ihr 70-Jahr-Jubiläum. Im Gründungsjahr der Firma Altorfer Duss & Beilstein war die Welt noch eine andere: 1954 gab es in Afrika nur fünf unabhängige Staaten, der Rest des Kontinents war von europäischen Kolonialmächten besetzt. Die neutrale, nichtkoloniale Schweiz wurde in dieser Zeit zu einem bevorzugten Standort für Firmen, die auch im Zeitalter der Dekolonialisierung lukrative Handels- und Finanzgeschäfte mit Übersee betreiben wollten. 

Handel, Söldnerwesen, Wissenschaft

Dies war aber keinesfalls die Neuerfindung eines global ausgerichteten Schweizer Geschäftsmodells. Das macht die neue Ausstellung «kolonial» im Zürcher Landesmuseum deutlich. «Die globalen Verflechtungen der Schweiz», wie sie im Landesmuseum etwas verharmlosend genannt werden, reichen bis ins 16. Jahrhundert zurück. Mit der Beteiligung am Sklavenhandel über den Söldnerdienst bis hin zur wissenschaftlichen Forschung waren Schweizer und Schweizerinnen über Jahrhunderte hinweg in koloniale Machenschaften involviert.

172 000 versklavte Menschen

Die Autorin und Wahlzürcherin Fatima Moumouni kommentiert die Ausstellung in einem Videobeitrag: «Es ist 2024, und die Schweiz hat gerade herausgefunden, dass sie beteiligt war.» Und wie beteiligt! Schweizer Unternehmen haben insgesamt 172 000 versklavte Menschen gehandelt! 1864 sprach sich der Bundesrat als letzte Regierung in Europa für die Sklaverei aus. Und bis im Jahr 1964 veranstaltete der Circus Knie sogenannte Völkerschauen. In solchen Menschenzoos wurden sogenannte Wilde zur Schau gestellt und nicht selten in den Tod getrieben. Dies nur drei der schockierenden historischen Tatsachen, die in der Ausstellung zur Sprache kommen und diese zu einer Bombe im selbstgefälligen nichtkolonialen Schweizer Selbstverständnis machen. 

Schweiz auf dem Kopf

Am Eingang von «kolonial» hängt ein roter Wandteppich mit der Überschrift «Novus Liberalismus Capitalismus», auf dem eine Weltkarte kopfüber abgebildet ist. Die Karte steht natürlich nur auf dem Kopf, weil wir den eurozentristischen Blick weitgehend verinnerlicht haben. Der globale Süden liegt hier also für einmal über dem globalen Norden. Auch das Bild einer Schweiz ohne Kolonien wird in der Ausstellung auf den Kopf beziehungsweise auf den Boden der kolonialen Tatsachen gestellt. Bilder von Schweizer Missionarinnen, Siedlungskolonien mit Schweizer Fahnen oder Rassentheoretiker an Schweizer Universitäten zeichnen das Bild eines Landes, das weitgehend in den imperialen Überlegenheitsdiskurs der europäischen Grossmächte und ihren Zivilisationsanspruch integriert war. 

SCHWEIZ NICHT UNSCHULDIG: In der Ausstellung werden Bilder gezeigt, die das oft übersehene koloniale Erbe und die Beteiligung der Schweiz an imperialen Strukturen beleuchten. (Foto: Landesmuseum Zürich)

Widerstände und Beziehungen

Gleichzeitig werden in der Ausstellung auch Personen des Widerstands beleuchtet. Haben Sie etwa schon einmal von Tipu Sultan gehört? Der Sohn eines indischen Generals kämpfte gegen die britische Ostindienkompanie und die Kolonialarmee. Auch noch wenig bekannt sind die Abolitionistinnen und Abolitionisten, die sich in Europa schon ab 1788 öffentlich gegen die Sklaverei starkmachten. Der noch immer verbreitete Glaube, früher hätten sich die Leute nicht über die Sklaverei empört, stimmt also nicht. Und auch Biografien und Beziehungen von versklavten Menschen werden beleuchtet. Zum Beispiel Pauline Buisson, die in den 1770er Jahren aus der französischen Kolonie Saint-Domingue (Haiti) nach Yverdon VD kam. Sie lebte dort als Bedienstete im Haus ihres Besitzers, dem Plantagenbesitzer David-Philippe de Treytorrens.

Koloniale Kontinuitäten

Im zweiten Teil der Ausstellung werden die gegenwärtigen Folgen des Kolonialismus thematisiert: so etwa die globale Ungleichheit, ungerechter Rohstoffhandel oder die Umweltzerstörung. Im Zentrum stehen unter dem Titel «koloniale Kontinuitäten» auch aktuelle gesellschaftliche Debatten und Fragen: Sollen beispielsweise Strassennamen oder Denkmäler von Personen, die am Kolonialismus beteiligt waren, geändert werden? Und was bedeutet struktureller Rassismus heute für die Betroffenen in der Schweiz? 

Kolonialismus und Klassenfragen

Der Historiker Bernhard C. Schär, der die vier Kuratorinnen und Kuratoren der Ausstellung beraten hat, erklärt den Schweizer «Kolonialismus ohne Kolonien» als Teil einer Geschichte der europäischen Integration im Rahmen der imperialen Expansion. Die Geschichtsschreibung interessiere sich nun zunehmend auch für die Rückwirkungen dieser kolonialen Ausbeutungsmechanismen auf den europäischen Kontinent. Schär sagt:

Die Machtgefälle und die Entstehung sozialer Klassen innerhalb Europas sind als Konsequenz des kolonialen Projekts noch wenig erforscht.

Die Resultate dieser Forschung werden dann vielleicht die Grundlagen für die nächste postkoloniale Ausstellung im Landesmuseum liefern. Draussen unter dem Neubau des Landesmuseums wird unterdessen auf weitere gute Geschäfte und die internationale Steuerberatung angestossen. 

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