worktag: Industriekletterer
Herumhängen als Beruf: Janick Badertscher (29) verbringt Stunden im Seil 

Sein Arbeitsplatz ist im Kletter-Gstältli, ein Seil sein ständiger Begleiter. Als Industriekletterer arbeitet Janick Badertscher dort, wo kein Kran hinkommt. Für das Abenteuer nimmt er auch eine Lohneinbusse in Kauf. 

MIT HELM UND GSTÄLTLI: Janick Badertscher hangelt sich der Fassade entlang. (Foto: Isabelle Haklar)

«Hast du keine Höhenangst?», «Fall nicht runter!», «Ich könnte das nicht…»: Das sagen Passantinnen, wenn sie Janick Badertscher bei der Arbeit beobachten. Das sagen auch seine Bekannten, wenn er von seinem Job erzählt. «Das sind die Klassiker. Die Top drei, die wir immer wieder zu hören bekommen», fasst Janick Badertscher zusammen. 

Der 29jährige steht vor einem Bürogebäude am Stadtrand von Bern und dreht sich eine Zigarette. Mit seinen Tattoos, den Turnschuhen und der Baseballmütze sieht er aus wie einer, der das Abenteuer sucht. Und es offensichtlich im Job gefunden hat: Der gebürtige Ostermundiger ist Industriekletterer. Er seilt sich in Stadtbrunnen ab. In dreckige Abwasserschächte auch. Er hängt in Silos, unter Lagerräumen oder an Hochhausfassaden – überall dort, wo kein Hebekran hinkommt, kein Gerüst gebaut werden kann. 

«Früher habe ich mich manchmal schon gross gefühlt», sagt Janick Badertscher lachend. Das Gefühl hat sich mit den Berufsjahren etwas relativiert. Auch weil in der Höhe nicht immer das nächste Abenteuer wartet. Manchmal sind die Aufträge sehr bodenständig. Wie heute an diesem sonnigen Montagnachmittag. Zu fünft putzen sie die Fensterfassaden des Bürogebäudes. Zwei Wochen lang. Badertscher sagt:

Das ist nicht meine Lieblingsbüez. Aber sie gehört zu unserem Alltag.

SICHERHEIT GEHT VOR: Wenn Badertscher und seine Kollegen in der Höhe arbeiten, sind sie mehrfach gesichert. (Foto: Isabelle Haklar)

Er zeigt auf seinen Kollegen, der in zwanzig Metern Höhe im Klettergstältli hängend mit dem Wischer die Glasfront abreibt. Das Seil ist unterhalb des Daches an einem Stahlgeländer angemacht. Ein zweites Sicherheitsseil hängt daneben. Ein Drop – das ist die Zeit im Seil – dauert rund zwei Stunden. Danach braucht man eine Pause – und Boden unter den Füssen. «Ich spüre es immer zuerst in den Beinen. Dann im Rücken», sagt Badertscher. 

Wahre Allrounder

Seit gut sechs Jahren arbeitet der Berner als Industriekletterer bei der Worber Firma Toprope. Angefangen hat er als Quereinsteiger wie seine Arbeitskollegen auch. Viele sind ausgebildete Bergführer. Janick Badertscher ist gelernter Schlosser. Eine Lehre in diesem Bereich gibt es nicht. Das Wissen rund um Material, Sicherheit und Rettung eignen sich die Industriekletterer in verschiedenen Ausbildungskursen an.

AUSGERÜSTET: Janick Badertscher präsentiert sein viel behängtes Kletter-Gstältli. (Foto: Isabelle Haklar)

Voraussetzung ist die Freude am Klettern. Handwerkliches Geschick auch. «Es nützt nichts, wenn du super am Seil bist, aber zwei linke Hände hast und keine Bohrmaschine bedienen kannst.» Der Rest ist Learning by doing. Vor allem, weil keine Arbeit der nächsten gleicht. Badertscher montiert Alarmanlagen, entrostet Brücken oder entkalkt Sickerleitungen. «Wir sind Reinigungskraft, Bauarbeiter, Sanitär, Maler und Elektriker in einem. Halt einfach am Seil», erklärt Badertscher.

Höchste Baustelle

Sein bislang aufregendster Einsatz führte ihn vor einigen Jahren nach Basel. Am Kamin einer Chemiefirma bohrte er mit seinen Kollegen Sondierungslöcher. Die Höhe: 160 Meter. Im Vergleich: Der Turm des Berner Münsters, höchster Kirchturm der Schweiz, ist gerade mal 100 Meter hoch. Das Team kletterte innerhalb des Kamins eine Leiter mit rund 400 Sprossen hoch. Das Material trugen sie auf den Schultern. Zwei Seile à 200 Metern Länge, Karabiner, Kantenschutz, Bohrmaschinen, Abseilgeräte. «Da kontrollierst du am Boden zweimal, ob du an alles gedacht hast!»

INTENSIV: Ein Einsatz im Seil dauert jeweils zwei Stunden, dann steht eine Pause an. (Foto: Isabelle Haklar)

Oben angekommen, installierte Badertscher das Seil am Sims und liess sich an der Aussenseite runter. Dieser Moment ist für den Berner jeweils der Aufregendste:

Wenn du erstmals im Seil hängst, dann pocht das Herz schneller. Dann zeigt sich, ob wirklich alles hält.

Sobald er mit der Arbeit beginnt, vergisst Badertscher meist, wo er sich befindet: «Ich sage immer: Zum Glück arbeite ich in dieser Höhe. Dann habe ich keine Zeit, Angst zu haben.» 

Von einem gefährlichen Job würde er indes nicht sprechen. Im Gegenteil. Industriekletterer seien sehr darauf aus, jegliches Risiko zu minimieren. Sei dies mit Vorinspektionen, Rettungsplänen und sehr hohen Standards. «Wir verkaufen Sicherheit! Das ist unser tägliches Brot.»

Viel Freiheiten

Dabei braucht es Vertrauen ins Material. Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Und das Vertrauen ins Team. Badertscher sagt:

Die Stimmung stimmt bei uns. Jeder hilft jedem.

Nach dem Feierabend sitzen sie oft in Worb zusammen. Trinken noch ein Bier. Grillieren. Sprechen über Hobbys, Ferien, Sport. «Es ist nicht wie in anderen Buden, wo sich alles um die Arbeit dreht.» Bei Toprope arbeiteten Menschen mit ähnlichen Interessen und mit vielen Leidenschaften. So vielen, dass niemand 100 Prozent arbeitet. 

Janick Badertschers Pensum beträgt derzeit 70 Prozent. Damit verdient er brutto 4400 Franken. Mit seiner Erfahrung könnte er in anderen Branchen mehr verdienen. Doch die Einbusse nimmt er in Kauf. «Wir dürfen mitentscheiden, mitreden – und haben viele Freiheiten. Das ist wichtiger als Geld!»

Die «Jänu»-Phasen

Es liegt auf der Hand: Klettern ist das grosse Hobby von Janick Badertscher. Am liebsten draussen in der Natur. Manchmal auch in der Halle. Seit er im Alltag ständig im Seil hängt, ist er nicht mehr gleich erpicht darauf, Wochenende für Wochenende am Felsen zu verbringen. Dafür hat er Zeit für andere Sportarten. Wie Surfen. Oder Gleitschirmfliegen. Im Moment ist Kitesurfen hoch im Kurs. 

Wie lange die Begeisterung anhält, lässt sich schwer abschätzen. «Ich habe immer meine typischen ‹Jänu›-Phasen», erzählt er und lacht. Da taucht er voll ab. Verbringt viel Zeit im Wasser, in der Luft, in den Bergen. Dann ebben die Phasen wieder ab. Was bleibt, ist die Sicherheit, dass die nächste Phase folgt, die nächste Passion.

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