Tessin/Uri: Grosser Unmut wegen familienfeindlicher Schichtpläne
Die Gotthard-Mineure wollen ihre Liebsten zurück

Auf den grossen Tunnel­baustellen in Airolo und Göschenen brodelt’s. Die Mineure haben kaum noch ein ­Familienleben. Und den Firmen ­laufen die Leute davon. ­Dahinter steckt ein ­rigoroser ­Bürokratismus des Staatssekretariats für Wirtschaft.

GIGANTISCH: Ein 700 Tonnen schwerer Pneukran hebt ein kreisförmiges Element der künftigen Tunnelbohrmaschine an seinen Platz. (Foto: Matthias Luggen)

Es herrscht emsiges Treiben am bergmännischen Portal in Airolo TI. Es ist der 1. Oktober, es nieselt, und der Wind pfeift. Doch die Arbeiter in ihrer orangen Schutzkleidung schwitzen. Über ihnen ragt ein 700 Tonnen schwerer Pneukran, und an seinem Haken hängt ein gigantisches kreisrundes Element. Es ist ein Stück der Tunnelbohrmaschine, die von hier aus dereinst den Gotthard durch­stossen wird. Mit über 12 Metern Durchmesser und 128 Metern Länge wird sie zu den Grosskalibern unter den Tunnelbohrern zählen. Bis es so weit ist, dauert es noch Monate. Eben erst hat ihr Aufbau begonnen.

Doch an diesem Dienstag ist etwas anders: Für zwei Stunden wird praktisch der gesamte Baustellenbetrieb eingestellt. Der Grund: Die Unia hat zu einer Informationsveranstaltung geladen. Und zwar zu einer, die nicht nur die Tunnelbüezer brennend interessiert, sondern auch ihren Arbeitgeber, den Berner Baukonzern Marti. Dieser stellt sogar sein Baubüro als Versammlungslokal zur Verfügung. Und er verrechnet die Teilnahme am Anlass als normale Arbeitszeit. Ein spezielles Setting. Aber noch spezieller sind die Verhältnisse im Schweizer Untertagbau geworden.

Marcin Reichert, Tunnel-Elektriker

ENTFREMDET VON DEN EIGENEN SÖHNEN

Rund 60 Arbeiter in Mineurstiefeln stapfen ins Baubüro, es ist fast die komplette Belegschaft, die zurzeit am Südportal tätig ist. Ihre Mienen sind ernst, die Stimmung geladen. Tunnel-Elektriker Marcin Reichert (34) erklärt:

Wir haben kaum noch ein Fami­lienleben. So kann es nicht weitergehen!

Reichert kommt aus Polen und gehört damit zur Mehrheit der Equipe, die ihren Wohnsitz ausserhalb der Schweiz hat. Zu Hause in Polen warten auf Reichert zwei kleine Kinder und seine Frau. «Ich tue alles, um sie wenigstens drei Mal im Monat zu sehen. Doch der Aufwand und die Kosten sind extrem.» Konkret muss Reichert jeweils mehr als einen Tageslohn aufwerfen, um von Airolo nach Kloten zu fahren und von dort nach Warschau zu fliegen. Dann geht’s im Eiltempo weiter in sein Dorf. Und dort bleibt ihm gerade mal ein Tag mit der Familie. Dann muss er schleunigst zurück in den Stollen.

Auch Giuseppe Anello ist frustriert. Der 43jährige Sizilianer ist schon sein halbes Leben Tunnelbauer. Doch seit er am Gotthard stationiert ist, sieht er seine beiden Söhne und seine Frau nur noch selten. Die Konsequenz: «Ich entfremde mich von meiner eigenen Familie!» Anellos Frust ist umso grösser, da er die früheren Verhältnisse kennt.

SCHWEIZ HÄNGT SICH SELBST AB

Zwar gehören lange Arbeitswochen zum Tunnelbau wie die heilige Barbara, die Schutzpatronin der Bergleute. Doch nicht immer waren die Verhältnisse derart fami­lienfeindlich. Das liegt an den Schichtmodellen. Die international verbreiteten Modelle heissen im Fachjargon «10-4», «9-5» und ­«8-6». Beim Modell «10-4» wird das Stundensoll von zwei Wochen in 10 Tagen abgearbeitet, dann gibt’s 4 Tage Wochenende. Beim Modell «8-6» wird das gleiche Soll sogar in 8 Tagen geleistet und dann mit 6 freien Tagen kompensiert. Genug Zeit also für die Reise in die Heimat, für Familie und Erholung. Doch damit ist Schluss in der Schweiz! Seit 2017 bewilligt das Staatsekretariat für Wirtschaft (Seco) keine Modelle mehr, die über 7 aufein­anderfolgende Arbeitstage hinausgehen. Zuvor war dies jahrzehntelang kein Problem. Jetzt argumentiert das Seco plötzlich, es habe überhaupt keinen Handlungsspielraum. Das arbeitsgesetzliche Limit liege bei 7 Tagen – und damit basta. Am Gotthard gilt deshalb folgender Rhythmus: 7 Tage Arbeit, 2 Tage frei, nochmals 7 Tage Arbeit, dann 3 Tage frei, und zuletzt 5 Tage Arbeit und 4 Tage frei. Die Folgen sind heftig.

Michael Moser, Chefelektriker der Tunnelbohrmaschine

Seine Frau sehe er nur noch ein- oder zweimal pro Monat, sagt Michael Moser (47), Chefelektriker der Tunnelbohrmaschine. Mosers Heimat liegt am Wörthersee in Österreich. Und dorthin kann er nicht fliegen, sondern muss die 1500 Kilometer hin und her im Auto zurücklegen. Doch für diesen Marathon seien die meisten Wochenenden schlicht zu kurz. «Eine Heimreise bedeutet oft nur Stress auf der Strasse», sagt Moser. Und er kritisiert:

Die Schweiz hat sich selbst ins Abseits manövriert!

In Deutschland, Österreich oder Italien seien die Schichten viel humaner. Und in Norwegen gebe es sogar das Modell «14-14», also zwei Wochen Urlaub auf zwei Wochen Tunnelbau. Unter Mineuren habe die Schweiz jedenfalls massiv an Attraktivität eingebüsst, zumal auch der Schweizer Lohnvorsprung geschmolzen sei.

SOZIALPARTNER VEREINT GEGEN SECO

Diese Entwicklung bestätigt Rolf Dubach. Er ist Projektleiter Tunnelbau bei Marti und schon seit über dreissig Jahren in der Branche. An der Unia-Versammlung tritt er als erstes nach vorne und hält ein Grusswort als Arbeitgebervertreter der Paritätischen Kommission Untertagbau. Dubach sagt: «In dieser Sache ziehen wir alle am gleichen Strick, Arbeitgeber und Gewerkschaften!» Die Si­tuation sei ernst. Viele Mineure stünden kurz vor der Pension. Und schon jetzt liege der Altersschnitt weit über dem Üblichen. Mit seiner rigiden Bewilligungspraxis verschärfe das Seco den Fachkräftemangel erheblich. Zumal im Untertagbau 90 Prozent des Personals im Ausland rekrutiert werden müssten. Zudem habe der gesellschaftliche Wandel in Sachen Sorgearbeit auch im Tunnelbau Einzug gehalten:

Dass der Mann ein halbes Jahr wegbleibt und einfach Geld heimschickt, wird nicht mehr akzeptiert!

Nach Dubach ergreift Simon Constantin das Wort, bei der Unia zuständig für den Tunnelbau. Er beteuert: «Wir haben alles versucht, doch das Seco blieb stur!» Jetzt helfe nur noch eine Gesetzesänderung. Die Unia und die Arbeitgeber wollen, dass die Modelle «9-5» und «8-6» wieder möglich werden. Das ist ganz im Sinn der Mineure, wie eine Unia-Umfrage zeigt (siehe Box). Und Constantin betont:

Unser Ziel sind nicht lange Wochenenden zum Preis von langen Arbeitstagen. Es geht nicht um eine Steigerung der Produktivität, sondern um eine bessere Organisation der Schichten!

VERBESSERUNG FRÜHESTENS 2026

Sind aber Forderungen nach mehr Flexibilität und Ausnahmen vom Arbeitsgesetz nicht heikel für eine Gewerkschaft? Nicht unbedingt, sagt Gianluca Bianchi, Bausekretär der Unia Tessin und seit Jahren ein enger Begleiter der Gotthard-Büezer. «Als Gewerkschaft sind wir gegen Flexibilisierung, wenn sie nur den Bossen nützt, also etwa die Arbeiter in intensiven Zeiten auspresst wie Zitronen und sie in mageren Monaten einfach fallenlässt.» Ganz anders sei es, wenn Flexibilisierung ein echtes Fami­lienleben und Erholung ermögliche. Wichtig sei: Die angestrebte Ausnahme dürfe ausschliesslich für den Tunnelbau gelten. Und auch dort soll sie nur zum Zug kommen, wenn die Belegschaft der jeweiligen Baustelle und die Gewerkschaften ihr zustimmen. Genau dieses Anliegen tragen die grossen Firmen und die Unia nun an den Bund. Ende Oktober ist eine Sitzung mit der Eidgenössischen Arbeitskommission anberaumt. In Kraft treten dürfte eine Gesetzesänderung allerdings erst 2026.

Ob der Geduldsfaden am Gotthard bis dahin hält? Am Versammlungsende in ­Airolo gingen die Wogen jedenfalls hoch: «Wir wollen unsere Kinder noch aufwachsen sehen!» Oder: «Soll doch das Seco in den Tunnel!» work bleibt dran.

Unia-Umfrage: Zurück in die Zukunft, aber ohne «Schnapstag»!

Die Unia hat 400 Mineure aus allen Landesregionen zu ihren bevorzugten Schicht­modellen befragt. Die Resultate unterscheiden sich je nach Baustelle. Während auf kleinen Baustellen oft Mineure zum Einsatz ­kommen, die abends nach Hause können, sind auf Grossbaustellen mehrheitlich Auswärtige im Einsatz, die vor Ort in Containern ­wohnen. Auf Kleinbaustellen ist das beliebteste Schichtmodell das klassische «5-2», auf Grossbaustellen wollen dagegen 91 Prozent die Modelle «8-6» oder «9-5». Dafür sind auch 88 Prozent dieser Mineure bereit, jedes zweite Wochenende zu arbeiten.

UNNÖTIG

Einigkeit besteht auch beim sogenannten Schnapstag. Dieser ist eine Eigenart im Tunnelbau und dient den Arbeit­gebern lediglich dazu, einen überlangen ­Arbeitsturnus legal zu machen – durch ­Einschub eines freien Tages, eben den Schnapstag. Besonders an abgelegenen ­Orten und in einsamen Baracken ist der Name Programm. Doch Unia-Mann Gianluca Bianchi weiss: «Der Schnapstag wird von den allermeisten als unnützer und verlorener Tag abgelehnt.» (jok)

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