Ex-Häftling Manuel Matzke (37) kämpft für Gewerkschaftsrechte hinter Gittern
«Im Knast gilt Streik als Meuterei!»

Vor zehn Jahren gründeten ­Berliner Gefängnisinsassen eine kleine Gewerkschaft. Heute zählt die Gefangenengewerkschaft /Bundesweite Organisation (GGBO) Tausende Mitglieder in ganz Deutschland. Arbeitskampf hinter Gittern? Sprecher Manuel Matzke klärt auf.

work: Herr Matzke, Sie sind Bundessprecher der GGBO, einer europaweit einzigartigen Institution. Warum braucht es diese?
Manuel Matzke: Menschen in Haft haben keine Lobby. Denn mit Gefangenenfürsorge gewinnt man keine Wahlen. Und so herrschen unhaltbare Zustände: Die Jungs und Mädels in Haft bekommen im Schnitt 1,30 bis 2 Euro pro Stunde für ihre ­Arbeit. Arbeit im Gefängnis gilt ja als Behandlungsmassnahme, die primär der Re­sozialisierung dienen soll. Damit wird die niedrige Vergütung gerechtfertigt. Doch das ist totaler Quatsch! In Deutschland arbeiten über 80 Prozent aller Inhaftierten für ­externe Firmen. Und da reden wir nicht vom ­kleinen Unternehmen um die Ecke, sondern etwa vom Haushaltsgeräte-Giganten Miele oder von der ­Gartenprodukte-Marke Gardena.

Profiteure der Tiefstlöhne sind also vor allem private Firmen …
Ja. Doch wenn Arbeit wirklich der Resozialisierung dienen soll, dann muss das anders laufen. Resozialisierung funktioniert nur, wenn Arbeit wertgeschätzt wird. Zudem haben die meisten Inhaftierten hohe Schulden, aber keine Möglichkeit, diese während ihrer Haftzeit abzubauen. Das ist ein Fehler im System. Wer mit Schulden aus dem Knast geht, kommt wahrscheinlich wieder zurück.

Die Verschränkung von Industrie und Gefangenenarbeit ist alt, die GGBO aber erst zehn Jahre jung. Wie kam es zur Gründung?
Es begann im Mai 2014 in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Tegel bei Berlin. Dort sass Oliver Rast, ein Gefangener aus dem linksautonomen Spektrum. In der hauseigenen Buchbinderei verdiente er um die 1,30 Euro und musste vor allem Gesetzesbücher oder Justizbroschüren binden. Gegen diese Ausbeutung wollte er sich wehren und hat innerhalb und ausserhalb der Mauern sein Umfeld mobilisiert.

Wie geht das eigentlich, mobilisieren in Haft?
Wir draussen halten Brief- und Telefonkontakt zu Hunderten, die einsitzen. Und auch zahlreiche Juristinnen und Sozialarbeiter verweisen auf uns. Unsere wichtigsten Multiplikatoren sind aber die Inhaftierten selbst. Die Nachricht über die Gründung ­verbreitete sich rasch. So wurde aus der Gefangenengewerkschaft Tegel eine bundesweite Organisation.

Und wie kamen Sie dazu?
Ich war zu der Zeit in der JVA Zeithain in Sachsen inhaftiert und habe durch den «Lichtblick» von der GGBO erfahren. Diese Gefangenenzeitschrift wird in ganz Deutschland verteilt. Wir haben dann eine lokale Sektion gegründet, und innerhalb einer Woche waren die Hälfte der Zeithainer Insassen Mitglieder.

Sie haben also einen Nerv getroffen. Mit ­welchen Forderungen?
Erstens: Stop der Arbeitsausbeutung und Einbezug der Gefangenen in den gesetzlichen Mindestlohn. Zweitens: soziale Leistungssysteme auch für Gefangene. Und drittens: volle Gewerkschaftsfreiheit hinter Gittern. Wenn du heute im Gefängnis deine Arbeit niederlegst, dann gilt das als Meuterei, was ein schwerer Straftatbestand ist. Das ist absolut fatal! Doch mir ist wichtig zu betonen, dass wir uns nicht auf diese Hauptforderungen beschränken. Wir sind bis heute eine ehrenamtliche Selbstorganisation und orientieren uns immer an den Bedürfnissen, die aus dem Vollzug heraus formuliert werden.

Wie kommt all das bei Behörden und Gefängnis­direktoren an?
Am Anfang zogen sie alle Register, um die Gewerkschaftsgründung zu unterbinden. Sie hielten Briefe an, behinderten die Verbreitung von Infomaterial oder drohten unseren Vertretern mit Konsequenzen. Aber die Dynamik war bereits zu stark. Später stellte ein Gericht fest, dass die Koalitionsfreiheit auch in Haft gilt, dass also auch Gefangene Gewerkschaften gründen dürfen. Das war ein Meilenstein …

… mit praktischen Folgen?
Durchaus! Heute werden unsere Sektionsversammlungen zugelassen. In einigen Anstalten sind sogar Versammlungen mit externer Beteiligung möglich. Dort haben die Anstaltsleitungen begriffen, worum es geht: Gemeinsamer Austausch ist essentiell! Wenn mir in meiner Zeit bei der GGBO eines klar wurde, dann, dass Gewerkschaftspolitik Bildungspolitik ist. Und das ist auch für den Resozialisierungsprozess zentral. Inhaftierte erfahren mit uns praktische Solidarität. Das ist etwas, das sie bei ihrer Entlassung mitnehmen.

Auch auf dem institutionellen Parkett ist die GGBO heute etabliert. Deutlich wurde dies 2022 vor dem Bundesverfassungsgericht. Ein Inhaftierter hatte gegen die miserable Vergütung seiner Arbeit geklagt. Wir von der GGBO wurden als Sachverständige geladen und mussten während zweier voller Tage aussagen.

Und wie ging der Prozess aus?
Das Gericht stellte fest, dass die aktuellen Vergütungen verfassungswidrig sind. Was aber konform wäre, hat das Gericht nicht gesagt, sondern die Bundesländer beauftragt, neue Richtlinien zu erstellen.

In der Schweiz sitzen rund die Hälfte der Gefangenen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Sie sind also nur hinter Gittern, weil sie eine Busse oder eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Wie ist das in Deutschland?
Auch bei uns sitzen nur 11 Prozent wegen wirklicher Verbrechen ein. Ja, wir müssen darüber reden, wie wir mit diesen Menschen umgehen. Aber wir müssen auch darüber reden, dass die grosse Mehrheit wegen Bagatelldelikten sitzt. Die meisten sogar wegen Ersatzfreiheitsstrafen. Das ist reine Armutsbestrafung und gehört abgeschafft.

*Lorenz Naegeli ist Journalist beim Zürcher Recherchekollektiv WAV und Mitautor der neuen WOZ-Beilage (wobei) «Weggesperrt. Hinter Schweizer Gefängnismauern».

Manuel Matzke: Vom Knacki zum politischen Kämpfer

Manuel Matzke arbeitet heute als Geschäftsführer für die Partei Die Linke im sächsischen Landkreis ­Meissen. Und als Sprecher der GGBO verkehrt er auch mal im Berliner Bundestag oder bei lokalen Justiz­senatorinnen. Von 2014 bis 2021 sass er wegen Körperverletzung und Wirtschaftsbetrugs im Gefängnis. Dort verdiente er als Automechaniker 1,30 Euro pro Stunde. Heute zählt seine Gewerkschaft laut eigenen Angaben Mitglieder im fünfstelligen Bereich und ist in fast allen Anstalten Deutschlands präsent. (jok)

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