80 Jahre Partisanenrepublik Ossola
Die Beinahe-Invasion der Nazi-Faschisten ins Tessin

Im Onsernonetal kam es vor 80 Jahren zum schwersten Grenzzwischenfall der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. Eine Mussolini-Truppe unter SS-Kommando verlangte die Auslieferung von 250 geflüchteten Partisanen. Doch die Tessiner Soldaten hielten stand.

KAMPF GEGEN DIE FASCHISTEN: Italienische Widerstandskämpfer im Jahr 1944 im Gefechtsmodus. Im Hintergrund zu sehen ein aktuelles Bild der Craveggia-Bäder. (Montage: work / Fotos: Djamila Agustoni, Ascona-Locarno Turismo und Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza)

«Dolce far niente in Brissago.» Unter diesem Titel schildert im Sommer 1944 ein Deutschschweizer Büezer seine Ferienerlebnisse in der Zeitung des VHTL, einer Vorgängergewerkschaft der Unia. Es ist ein Bericht voller Begeisterung: schönes Wetter, süsse Feigen, Bädelen im Lago Maggiore… «Du liegst geniesserisch und dösend auf der faulen Haut, wie es im Buche steht.» Doch etwas trübt die Idylle: Gleich hinter Brissago, direkt an der Schweizer Grenze, tobt der Weltkrieg! Und zwar immer intensiver. Denn die italienischen Partisanenverbände erobern mit ihren Guerillamethoden immer mehr Territorium zurück. Die deutschen Besatzer geraten in Bedrängnis – und mit ihnen ihre faschistischen Helfershelfer unter Benito Mussolini. Dieser ist zwar nicht mehr Diktator Gesamtitaliens, aber immerhin noch Chef der «Sozialrepublik» von Salò, einem Marionettenstaat von Hitlers Gnaden. Der VHTL-Urlauber wird zum unfreiwilligen Kriegszeugen. Er schreibt:

Mitten in der Nacht beginnt die Schiesserei mit Gewehren und Maschinengewehren und bis in den späten Nachmittag wird der Kleinkrieg unter Verwendung von leichten Geschützen fortgesetzt.

Einmal habe er sogar gesehen, wie ein Dampfschiff der Faschisten aus unmittelbarer Grenznähe gegnerische Stellungen beschoss. Die Quittung sei noch am selben Tag erfolgt. Vier Flugzeuge hätten den Hafen von Luino (IT) bombardiert und verschiedene Schiffe auf dem Lago Maggiore versenkt.

Eine befreite Zone für 40 Tage

Was der Gewerkschafter da beobachtete, war eines von unzähligen Gefechten, mit denen die total rund 200’000 Partisanen der «Resistenza» und die Alliierten Italien befreiten. Besonders ausgeprägt war der Widerstand im Valle d’Ossola. Im ans Wallis und das Tessin angrenzende Tal verkehrten fünf verschiedene Partisanenverbände mit rund 3000 Kämpfern (und vereinzelten Kämpferinnen). Obwohl die Gruppierungen politisch sehr divers waren (Monarchisten, Christdemokraten, Kommunisten sowie sogenannte Autonome mit zumeist katholischer oder liberaler Ausrichtung) und oft unkoordiniert oder gar in Konkurrenz zueinander handelten, gelang ihnen der Befreiungsschlag: Am 10. September 1944 proklamierten sie in Domodossola die «Partisanenrepublik Ossola». Ihr Gebiet umfasste eine Fläche in der Grösse des Kantons Zürich und zählte 80’000 Einwohnerinnen und Einwohner.

DIE PARTISANENREPUBLIK: Dies war der ungefähre Grenzverlauf von Ossola im Herbst 1944. (Foto: Schweizerisches Nationalmuseum)

Sofort leitete die eingesetzte provisorische Regierung fortschrittliche Massnahmen ein. Die faschistische Gewerkschaft wurde zerschlagen, die Pressefreiheit wiederhergestellt, die Schule reformiert, der Bahnverkehr und die Telefonverbindung in die Schweiz wieder ermöglicht. Doch das freiheitliche Experiment dauerte bloss 40 Tage. Denn schon Anfang Oktober startete die Wehrmacht mit ihren faschistischen Verbündeten eine grossangelegte Rückeroberungsaktion. Dafür standen 5000 gut ausgerüstete und schwer bewaffnete Soldaten bereit. Die abgeschnittene Republik Ossola dagegen hatte kaum schwere Waffen und nur noch wenig Munition.

IN WARTESTELLUNG: Die von Ossola. (Foto: Archivio fotografico Istituto storico / Piero Fornara / Fondo Resistenza)

Und da die Alliierten ihre versprochene Luftunterstützung nicht lieferten, wartete auf die Partisanen der sichere Tod – oder aber die Flucht in die Schweiz. Exemplarisch dafür steht die «Battaglia di Bagni di Craveggia», die Schlacht bei den Thermen von Craveggia. Dort, im hintersten Winkel des Tessiner Onsernonetals, direkt an der Grenze, war es vor 80 Jahren sogar um ein Haar zu einer faschistischen Invasion in die Schweiz gekommen.

Ein Leutnant mit Herz

Es sind nur eine Handvoll Soldaten, die am 13. Oktober 1944 die Schweizer Grenze bei Spruga bewachen. Das letzte Dorf im Tessiner Onsernonetal ist von Italien her nur über eine sechsstündige Bergwanderung zu erreichen. Doch genau das tun an diesem Tag rund 500 Personen. Es sind übermüdete und hungernde Partisanen und Zivilisten, die vor den heranrückenden Faschisten fliehen. Sie bitten die Grenzsoldaten um Einlass in die Schweiz. Doch diese haben die strikte Weisung des Bundesrates, wonach die Kampfhandlungen ennet der Grenze keinesfalls beeinflusst werden durften. Also weisen die Schweizer die Partisanen ab und lassen nur 4 Verletzte und die 250 Zivilisten, darunter 31 Kinder, passieren.

OKTOBER 1944: Partisanen und Zivilisten warten darauf, die Schweizer Grenze zu passieren.
Der Soldat im Vordergrund ist wahrscheinlich ein deutscher Deserteur des Zollgrenzschutzes. (Foto: Insubrica Historica)

Doch dem befehlshabenden Leutnant Augusto Rima ist dabei alles andere als wohl. Er weiss, dass die Nazi- und Mussolini-Truppen in Kürze eintreffen und ein Blutbad anrichten werden. Rima wird dazu später einmal sagen:

Die Brigadebefehle waren nun mal so, ich aber habe mir gesagt: Es kann doch nicht sein, dass ein selbständig denkender Mensch einfach darauf wartet, Zeuge eines Massakers zu werden, ohne etwas dagegen zu tun.

Also fasst sich der damals 28jährige ein Herz und erklärt den Partisanen seinen Plan: Er könne sie als Kriegspartei nicht hereinlassen, ausser es drohe unmittelbare Todesgefahr. Daher bliebe nichts anderes übrig, als auf die Faschisten zu warten und mit ihnen in einen Schusswechsel zu treten. Dann sei die für Bundesbern nötige Lebensbedrohung gegeben und der Übertritt erlaubt. Die Partisanen sind einverstanden, und Rima zeigt ihnen noch, von wo aus der feindliche Anmarsch am einfachsten beobachtet werden kann und wo die besten Verstecke liegen. Dann gehen Partisanen und Schweizer in Stellung.

Mord auf Schweizer Boden

Am Nachmittag des 18. Oktober ist es so weit. Mit drei Warnschüssen kündigen die Spähposten der Partisanen die Faschisten an. Und schon tauchen diese aus dem Nebel auf, rund 200 Mann, Angehörige der berüchtigten 10. Flottille, einer Marine-Spezialeinheit sowie einer Fallschirmspringer-Staffel, befehligt von deutschen SS-Kommandanten. Der Kampf bricht sofort und heftig aus. Die Faschisten verschiessen über 25’000 Kugeln, zudem etliche Mörsergranaten.

Der Kugelhagel verfolgt die Partisanen sogar über die Grenze. Ein Kriegsverbrechen, das für den 24jährigen Mailänder Partisanenoffizier Federico Marescotti tödlich endet. Obwohl bereits auf Schweizer Boden, wird er getroffen. Auch der 19jährige Renzo Cohen erliegt seinen Verletzungen später im Spital von Locarno. Cohen war ein Jude aus Genua und als Flüchtling in einem Lager bei Lugano interniert. Von dort war er getürmt, um sich den Partisanen anzuschliessen.

Nazi-Faschisten drohen mit Einmarsch

Der Plan von Leutnant Rima geht jedenfalls auf. Den meisten Partisanen gelingt der Übertritt unversehrt. Die Schweizer bringen sie sofort in die Kirche von Spruga, deren dicke Mauern einem allfälligen Beschuss am längsten standhalten würden. Die Faschisten lassen nämlich nicht locker. Ihr Kommandant verlangt die sofortige Herausgabe aller «Banditen» – und zwar lebend, verletzt oder tot. Ansonsten werde er Gewalt anwenden und sich die Partisanen selbst holen.

Rima und sein Kommandant Tullio Bernasconi lehnen das Ansinnen ab und drohen ihrerseits mit Waffengewalt. Darauf setzen die Faschisten ein Ultimatum. Und als dieses verstreicht, abermals ein neues. Derweil trifft aus Bellinzona schwer bewaffnete Verstärkung ein. Erst diese überzeugt die Faschisten, von ihrem Vorhaben abzusehen.

Internierung und Erinnerung

Obwohl gerettet und von weiten Teilen der lokalen Bevölkerung unterstützt, bereitet die offizielle Schweiz den Partisanen alles andere als einen warmen Empfang. Sie werden sofort in Lager interniert und als Zwangsarbeiter eingesetzt. Ihre Verpflegung ist miserabel, nächtigen müssen sie in schlecht isolierten Bretterbaracken. Unter besonderer Beobachtung stehen die kommunistischen Partisanen. Sie werden als Gefahr betrachtet und in besonders abgelegenen Lagern in der Deutschschweiz isoliert.

ANKUNFT IN BERN: Die Partisanen werden in der Hauptstadt in verschiedene Internierungslager gesteckt. (Foto: Staatsarchiv Kanton Bern / FN Nydegger)

Heute erinnert an die «Schlacht» bei den Craveggia-Bädern noch ein Gedenkstein. Und 2025 soll vor dem Spital Locarno ein Stolperstein an das Schicksal des dort verstorbenen Renzo Cohen erinnern. Soeben erschienen ist zudem «Die Brücke von Falmenta», eine deutsche Erstübersetzung von Erinnerungen des Partisans Adriano Bianchi. Er wurde bei den Bagni di Craveggia schwer verwundet und im Spital von Locarno operiert.

Dieser Gedenkstein aus dem Jahr 2018 erinnert an das Gefecht bei den Craveggia-Bädern. (Foto: Wikipedia / Hb309)

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