US-Wahlen: Wieso Harris verloren hat
Sie hat die Alltagssorgen der Büezerinnen und Büezer aus den Augen verloren

Chris Kelley ist in den USA aufgewachsen und verfolgt nach wie vor das politische Geschehen in seinem Heimatland. Für work ordnet der Co-Sektorleiter Bau der Unia die Niederlage von Kamala Harris gegen Donald Trump ein. 

NACH DER NIEDERLAGE: Kamala Harris zeigte sich nach der Wahl als faire Verliererin. (Foto: Keystone)

Vor vier Jahren schaute die Welt zu, wie Rechtsextreme in Washington D.C. das Kongressgebäude stürmten. Ihr Ziel: den gewählten US-Präsidenten Joe Biden verhindern.  Für mich waren die Szenen surreal. Obwohl meine Familie aus der Gewerkschaftshochburg und heutigem Swing State Pennsylvania stammt und ein anderer Teil aus Georgia, war Washington bis zu meiner Jugend meine Heimatstadt.
 
Nun, vier Jahre später, wird Donald Trump als neuer, alter Präsident das Amt antreten. Derjenige, der die Rechtsextremen vor ihrem Sturm auf das Capitol aufgeheizt hatte. Er hat nicht nur dank dem veralteten US-Wahlsystem gewonnen. Dieses Mal hat er voraussichtlich sogar die absolute Mehrheit der Stimmen erhalten.  

EIN BILD, DAS UM DIE WELT GING: Rechtsextreme haben das Capitol gestürmt. (Foto: Keystone)

Reaktionär und rassistisch?

Leute in der Schweiz fragen mich: Ist eine Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner nun rassistisch, frauenfeindlich und erzreaktionär? Es ist eine Tatsache, dass bereits Trumps erster Sieg die extreme Rechte katalysierte und sowohl offene Rassisten als auch Frauenhasser sich von Trump angezogen fühlen.

Die Auswertungen der Nachwahlbefragungen sind allerdings unbequem. Trotz Trumps unsäglicher Rhetorik auf der einen Seite und identitätspolitischen Aufrufen der Demokraten auf der anderen, wählten so viele Latinos und Afroamerikaner wie noch nie einen republikanischen Kandidaten. Gegenkandidatin und aktuelle Vizepräsidentin Kamala Harris erreichte die Mehrheit der Latinos, eine bisher treue Wählergruppe, nur knapp. Und während Harris‘ Vorsprung bei den Frauen im Vergleich zu 2020 um satte sieben Prozent zurückging, erreichte Trump sogar eine Mehrheit der Frauen ohne Hochschulabschluss. Trotz Abtreibungsfrage und trotz haarsträubender Aussagen von Trumps Vize, JD Vance. Bei fast allen demographischen Gruppen schaffte es Trump, seinen Stimmenanteil zu verbessern. Millionen, die zuvor Barack Obama zum ersten afroamerikanischen Präsidenten der Geschichte gewählt hatten, sind heute Trump-Wählende. Provokativ formuliert:

Das war die diverseste republikanische Koalition seit dem letzten Jahrhundert.

Bei einer Gruppe konnte Harris punkten: Während Trump die Mehrheit der Personen mit tieferem Haushaltseinkommen für sich gewann, kann Harris die Mehrheit derjenigen mit Einkommen von über 100’000 Dollar für sich beanspruchen. Diese zweifelhafte Ehre spricht Bände.

Die Status-Quo-Kandidatin

So what the hell happened? Kamala Harris hatte keine einfache Ausgangslage. Nach dem Biden-Desaster hatte Harris drei Monate Zeit, ihre Kampagne zum Sieg zu steuern. Die weltweite Teuerung war besonders spürbar in den USA und fand unter einem Demokratischen Präsidenten statt, der aus Sicht der meisten wenig dagegen tat. Und Harris ist eine Frau. Wer glaubt, das habe keine Rollte gespielt, lebt in einer Fantasiewelt.
 
Nichtdestotrotz schaffte Harris einen dynamischen Start. Zum einen war dies Ausdruck blanker Erleichterung, nicht mehr einen Kandidaten im geistigen Verfallszustand zu haben. Zum anderen schien Harris zu Beginn einen anderen Kurs einzuschlagen. Sie stellte die Alltagssorgen der Leute ins Zentrum und verband diese mit scharfen Angriffen auf CEOs und Konzerne.

WAS IST PASSIERT? Ein Grund für ihre Niederlage war, dass Kamala Harris eine Frau ist. Diese Erklärung greift aber zu kurz. (Foto: Keystone)

Doch je näher der Wahltag vorrückte, desto mehr distanzierte sich die Harris-Kampagne von diesem Kurs. Nachdem sie ihre Kampagne zusammen mit populären Gewerkschaftsfiguren gestartet hatte, tourte sie zum Schluss mit Establishment-Vertretern und Multimilliardären durch die Staaten. Statt sich auf die konkreten Anliegen der Leute zu konzentrieren, war der Endspurt durch abstrakte Warnungen vor der lauernden Trump-Gefahr geprägt. Anstelle eigener Botschaften wurden an Harris-Kundgebungen Ausschnitte von Trump-Reden auf Grossbildschirmen projiziert.
 
Dabei war die Hauptsorge der Wählenden gemäss einer Umfrage nach der anderen klar: die steigenden Lebenskosten. Unabhängig von Geschlecht oder Migrationshintergrund. Diese Tatsache kollidierte mit der Sichtweise vieler Demokratinnen und Demokraten (und vieler Linken in Europa), die Minderheitsgruppen auf ihren jeweiligen Status reduziert und dabei ausblendet, dass auch sie arbeiten, Mieten bezahlen und steigende Lebenskosten fürchten. In Anlehnung an den bekannten Slogan der 1990er-Jahre fasst es der indisch-amerikanische Soziologe und Aktivist Vivek Chibber zusammen:

Ob weiss, schwarz oder braun, es sind die wirtschaftlichen Sorgen der Leute, Dummkopf!

Nach Jahren steigender Lebenskosten, Wohnungsnot und weiteren sozialen Problemen, antwortete Harris wie folgt auf die Frage, welche Veränderungen sie im Vergleich zu Biden vorhabe: «Nichts fällt mir ein.»

Von der «Party of the People» zur «Party Everyone Loves to Hate»

Die Geschichte beginnt aber viel früher. Die Demokraten waren zwar nie eine Partei radikaler Veränderung. Aber seit sie in den 1930er-Jahren mit dem New Deal einen immerhin minimalistischen Sozialstaat durchgedrückt hatten, galten sie als Partei der arbeitenden Leute.
 
In den letzten Jahrzehnten änderte sich das. Historiker Matt Karp spricht von einem Prozess der Entkoppelung:

Arbeitende Leute distanzierten sich von der Partei, der sie jahrzehntelang die Treue geschworen hatten.

In den 1980ern sah die Parteiführung kurzfristige Chancen darin, sich zunehmend auf eine hochgebildete und wohlhabende Angestelltenschicht zu konzentrieren. Industriepolitik wurde zugunsten arbeitnehmerfeindlicher Freihandelsabkommen geopfert und der Einsatz für Löhne, Wohnraum und Gesundheit wurde zunehmend von der Symbolpolitik einer Akademikerschicht verdrängt. Abdriftende Wählende wurden als ignorant abgestempelt. Die Partei, der einst eine dauerhafte Mehrheit zugesagt wurde, entwickelte sich zur «Party everyone loves to hate», die Partei, die alle lieben zu hassen.
 
Nach mehreren Fehlversuchen füllte spätestens die Republikanische Partei um Donald Trump dieses Vakuum. Er schuf die Erzählung, er sei der Anwalt der Unterschicht gegen die kulturelle und politische Elite des Establishments. Trotz arbeitnehmerfeindlicher Politik bezeichnen sich Republikaner mittlerweile als «multikulturelle Partei der Arbeiterklasse» – und kommen damit durch.

ERFOLGREICHER BLENDER: Donald Trump hat es geschafft, dass die Menschen ihn als Freund der Arbeiterklasse wahrnehmen. (Foto: Keystone)

Einige Demokraten meinten, eine perfide Lösung darauf gefunden zu haben. Senatsführer Chuck Schumer formuliert es wie folgt:

Für jeden Arbeiter, den wir verlieren, gewinnen wir zwei gemässigte Republikaner in den Vororten.

Das war 2016. Vier Monate später verlor Hillary Clinton die Wahl an Trump.
 
Nach dem erneuten Wahldebakel dieses Jahr nimmt der unabhängige Senator Bernie Sanders kein Blatt vor dem Mund:

Es sollte nicht überraschen, dass eine Partei, die die Arbeiterklasse im Stich liess, nun feststellt, dass die Arbeiterklasse auch sie im Stich lässt. Zuerst war es die weisse Arbeiterklasse, und jetzt sind es auch Latinos und schwarze Arbeitende. Während die Demokratenführung den Status Quo verteidigt, ist das amerikanische Volk wütend und will Veränderungen. Und sie haben Recht.

Und nun?

Die noch deutlichere Niederlage der Demokraten gegen Trump scheint die Wiederholung der Geschichte zu sein. Vor acht Jahren als Tragödie, nun als Farce. Die Demokraten haben nichts gelernt.
 
Einige Demokraten sind selbstkritischer. Harris‘ Vize-Kandidat und ehemaliger Lehrer Tim Walz erklärte kurz vor der Wahl:

Klar ist Trump ein Meister der Manipulation. Aber man muss auch die Frage stellen: Was tun wir nicht, um diese Leute anzusprechen? Wenn ich meiner Schulklasse eine Prüfung vorlege und die Mehrheit der Schüler schlecht abschliesst, dann hat das vermutlich etwas mit mir zu tun.

Das ist ein Anfang. Die Demokratische Partei wird sich nicht von heute auf morgen verändern, wenn überhaupt. Und es stehen schwierige Zeiten bevor. Will sie aber jemals wieder zur Partei der Massen werden, dann muss sie für eine Politik einstehen, die nicht auf eine hochgebildete und wohlhabende liberale Elite ausgerichtet ist. Sie muss zur Partei werden, welche die realen Sorgen der Leute ernst nimmt und sie entlang dieser Themen auch eint.

Unia-Mann Chris Kelley. (Foto: Unia)

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