Ex-Eternit-Chef der vorsätzlichen Tötung angeklagt
Tödliche Asbestfaser: Schmidheiny erneut vor Gericht

Und wieder steht der frühere Eternit-Chef Stephan Schmidheiny vor Gericht. Es ist der Berufungsprozess um die Hunderte Asbest-Todesfälle in Casale Monferrato (IT). Ein weiteres Kapitel im fast 20 Jahre dauernden Kampf um Gerechtigkeit für die Opfer der tödlichen Asbestfaser.

STAATSANWALTSCHAFT WILL IHN LEBENSLANG HINTER GITTERN SEHEN: Der Schweizer Milliardär Stephan Schmidheiny. (Foto: Keystone)

Stephan Schmidheiny ist unschuldig und sollte freigesprochen werden.

Nein, Stephan Schmidheiny war sich der tödlichen Wirkung von Asbest bewusst und sollte wegen vorsätzlicher Tötung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt werden

Dies sind die beiden Gegensätze, die im Strafgerichtssaal des Gerichts in Turin aufeinanderprallen. Es geht um die asbestbedingten Todesfälle in der Fabrik der italienischen Kleinstadt Casale Monferrato. Das Gericht von Novara hat den Schweizer Unternehmer Schmidheiny (77) im Juni 2023 zu 12 Jahren Haft wegen schweren mehrfachen Totschlags verurteilt. Ein Urteil, das sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch von der Verteidigung angefochten wird.

Bis zu 3000 Tote

Stephan Schmidheiny stieg in den 1970er Jahren in das Unternehmen seines Vaters ein. Die Eternit-Gruppe war in mehr als 20 Ländern aktiv – allein in Italien an vier Standorten. Zu Spitzenzeiten arbeiteten dort bis zu 2000 Menschen in der Asbestverarbeitung und stellten Rohre oder Dachplatten her. Eternit Italia wird von der italienischen Justiz vorgeworfen, zwischen 1966 und 1986 für den Tod oder die Erkrankung von mehr als 3000 Arbeitern und Anwohnerinnen verantwortlich zu sein.

ORT DES GRAUENS: Die Eternit-Fabrik in Casale Monferrato. (Foto: Keystone)

In Turin liegen die Wurzeln der Ermittlungen, die vor 20 Jahren ein Team von Richtern unter der Leitung des ehemaligen Staatsanwalts Raffaele Guariniello eingeleitet hat. Und hier fand der erste historische Eternit-Maxiprozess statt. Eternit galt lange als idealer Bau- und Brandschutzstoff, erwies sich aber nach und nach als tödliches Gift. Seine feinen Fasern führten bei Tausenden von Menschen, die sie einatmeten, zu Krebs. Fast 3000 Tote – Arbeitnehmer und Anwohnerinnen in der Umgebung der Firmen – werden der heimtückischen Faser zugeschrieben. Das Gericht verurteilte 2012 den Milliardär Schmidheiny zu 16 Jahren Haft. Damit wurde erstmals ein oberster Firmenverantwortlicher für eine Industriekatastrophe von einem Gericht zur Verantwortung gezogen. Der Kassationsgerichtshof hob dieses Urteil aufgrund der Verjährung des Verbrechens 2014 jedoch auf.

In der Schweiz ist die Verjährungsfrist bei Krebserkrankungen durch Asbestfasern (Mesotheliom) inzwischen aufgehoben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Schweiz verurteilt und für Asbestopfer die Verjährungsfrist aufgehoben, denn die Folgen des Kontakts mit Asbest machen sich oft erst Jahrzehnte später bemerkbar. (work berichtete)

Asbestfonds

Seit 2017 bietet der von den Gewerkschaften initiierte Entschädigungsfonds für Asbestopfer unbürokratisch Hilfe für Betroffene und Angehörige. Mehr Infos unter diesem Link.

Schmidheiny: Schuldig

In Turin beschloss die Staatsanwaltschaft später, die Anklage wegen fahrlässiger Tötung in Bezug auf einzelne Todesfälle durch die Krebserkrankung Mesotheliom zu erheben. Das Verfahren wurde in vier Bereiche aufgeteilt: Für den grössten Bereich fand der Prozess vor dem Landgericht Novara statt. Er betraf 392 Todesfälle – ehemalige Arbeiter und Anwohnerinnen –, die von der Eternit AG in Casale Monferrato verursacht wurden. Die Staatsanwaltschaft klagte auf vorsätzliche Tötung. Denn mindestens seit den 1960er Jahren war bekannt, dass die Asbestfasern tödlich sind.

GEFÄHRLICH: Einblick in die Asbest-Fabrik von Casale Monferrato. (Foto: Keystone)

Das Gericht befand Schmidheiny am 7. Juni 2023 wegen der Todesfälle im Zusammenhang mit der industriellen Tätigkeit seiner Fabrik für schuldig. Stufte das Verbrechen jedoch auf den milderen Tatbestand des schweren Totschlags ab und verhängte eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren. Dieses Urteil bewirkte die automatische Verjährung von 199 der 392 Todesfälle.

Tödliche Profitgier

Gegen dieses Urteil hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingereicht, und deshalb muss sich Schmidheiny jetzt erneut vor Gericht verantworten. Die Staatanwaltschaft schreibt:

Schmidheiny hat die gesundheitlichen Risiken der Asbestproduktion gekannt. Er hat gewusst, dass schwere und tödliche Krankheiten wie Asbestose, Lungenkrebs und Mesotheliom auf den Kontakt mit Asbestfasern zurückzuführen sind. Trotzdem hat er beschlossen, die Produktion fortzusetzen. Und damit wissentlich die Gesundheit der Arbeiter und der Anwohnerinnen dem Profit geopfert.

Die Staatsanwaltschaft beschreibt einen «hartnäckigen und wiederholten Willen, der Schmidheinys skrupellose Absicht unterstützte, seine tödliche Unternehmertätigkeit um jeden Preis fortzusetzen». Es bestehe kein Zweifel, dass er sich selbst die sehr hohe Wahrscheinlichkeit der schwerwiegenden Folgen seines Handelns vor Augen geführt habe. Daher der Antrag an die Berufungsrichter, «Schmidheiny der vorsätzlichen Tötung schuldig zu sprechen und ihn zu der in der ersten Instanz beantragten Strafe zu verurteilen», das heisst lebenslänglich.

Die Anwälte des Angeklagten bestreiten, dass die Mesotheliom-Todesfälle auf das Fehlverhalten ihres Mandanten zurückzuführen seien. Es sei nach damaligen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht möglich gewesen, Asbest sicher zu verarbeiten. Sie bezweifeln auch die Aussagen der zahlreichen Zeuginnen und Zeugen, die über die Zertrümmerung von Abfällen unter freiem Himmel mitten in einem bevölkerungsreichen Viertel von Casale und von der ständigen Staubentwicklung berichtet haben. Die Verteidigung sieht Schmidheiny als «Sündenbock für die Produktionstätigkeit, die vor seiner Ankunft stattfand und schädliche Folgen hatte». Stephan Schmidheiny wird sich zu den Vorwürfen nicht äussern, er ist, wie bei allen Prozessen seit 2009, der grosse Abwesende.

Das Urteil wird voraussichtlich im Februar/März 2025 gesprochen.

*Claudio Carrer ist Chefredaktor der italienischsprachigen Unia-Zeitung «Area» und berichtet direkt aus Turin über den Prozess.

Holcim: Entstanden aus dem Schmidheiny-Imperium

Der Grossvater von Stephan Schmidheiny gründete in den 1860er Jahren eine Ziegelei. Ab dem frühen 20. Jahrhundert kam die Asbestverarbeitung hinzu. In Holderbank AG baute die Familie zudem ein Zementwerk auf, aus dem später die Firma Holcim werden sollte.

1974 stieg der damals 26jährige Stephan in das Geschäft ein. Zwei Jahre später übernahm er die Leitung der Gruppe. In der Schweiz hatte die Eternit AG Fabriken in Niederurnen im Kanton Glarus und im waadtländischen Payerne. Vater Max Schmidheiny starb 1991 als einer der reichsten Schweizer. 1997 ging die Schweizer Eternit-Sparte im Holcim-Konzern auf, die Fabriken in Niederurnen und Payerne waren zu diesem Zeitpunkt bereits verkauft worden.

Bereits Ende der 1980er Jahre hatte Stephan Schmidheiny seine Eternit-Anteile verkauft. Er sass im Verwaltungsrat mehrerer Schweizer Grossunternehmen (ABB, UBS, Nestlé). Mitte der 1980er Jahre war er unter anderem zusammen mit Nicolas Hayek an der Swatch-Gründung beteiligt. Sein Vermögen wird auf 2,3 Milliarden US-Dollar geschätzt.

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