Niedergang mit Ansage
2024: Horrorjahr für die Schweizer Industrie

Die fehlende Industriepolitik hat gravierende Folgen für die Büezerinnen und Büezer, aber auch für die ganze Schweiz. Allein in diesem Jahr gingen mehr als 1200 industrielle Arbeitsplätze verloren, und wichtige Industriezweige sind verschwunden oder akut bedroht.

KRISE, NOCH UND NÖCHER: Ob in der Stahlindustrie, der Glasindustrie, der Lebensmittelindustrie oder der Druckindustrie, in allen Sparten wurden Arbeitsplätze abgebaut. (Montage: work / Bilder: zvg/Keystone)

Es steht schlecht um die Schweizer Industrie! Seit einem Jahr werden in regelmässigen Abständen Fabriken geschlossen, Produktionsstätten ins Ausland verlagert oder Umstrukturierungen angekündigt. Betroffen sind alle möglichen Branchen wie die Stahlindustrie, die Glasindustrie, die Druckindustrie, die Lebensmittelindustrie oder die Maschinenindustrie. Vetropack, Micarna, die Druckzentren von Tamedia, Rieter, Stahl Gerlafingen und Swiss Steel: Seit Ende 2023 haben mehr als zehn Konzerne den Abbau von über 1000 Arbeitsplätzen bekanntgegeben.

Folgen der fehlenden Industriepolitik

Angesichts dieses industriellen Niedergangs werden die Stimmen lauter, die auch in der Schweiz eine aktive Industriepolitik fordern. Während die USA und die EU in den letzten Jahren mit Hunderten von Milliarden Franken Programme zur Unterstützung ihrer Industrien und zur Beschleunigung des ökologischen Wandels aufgelegt haben, bleibt der Bundesrat bisher völlig tatenlos.

Im März, als sich die Angst vor einem Stellenabbau in der Stahlindustrie konkretisierte, wies die Unia in einer Medienmitteilung darauf hin, dass die Folgen der fehlenden Industriepolitik in der Schweiz immer sichtbarer werden (zum Artikel). Die Gewerkschaft schrieb angesichts der Schwierigkeiten der Stahlwerke in Gerlafingen SO und von Swiss Steel in Emmenbrücke LU:

Die Gewerkschaft Unia fordert seit Jahren von Bund und Kantonen, eine Industriepolitik zu betreiben, welche die Unternehmen dabei unterstützt, die ökologische Transformation zu schaffen, und gleichzeitig Arbeitsplätze mit guten Arbeitsbedingungen in der Schweizer Industrie sichert.

Blockade des Bundesrates

Trotz mehrerer kürzlich eingereichten Motionen, die ihn zum Handeln aufforderten, sträubt sich der Bundesrat aber weiterhin gegen die Unterstützung der Industrie. Immerhin machen Vorentscheide in den parlamentarischen Kommissionen Hoffnung. So haben die Wirtschaftskommission des Ständerats und die Umweltkommission des Nationalrats die Annahme von mehrerer Vorstössen empfohlen, welche die Zukunft der Schweizer Stahlindustrie sichern sollen. Die nationalrätliche Umweltkommission hat zudem einen Vorschlag ausgearbeitet, um die Stahlproduzenten vorübergehend bei den Netznutzungsgebühren zu entlasten. Bei Stahl Gerlafingen würden sich die Stromkosten im nächsten Jahr um etwa acht Millionen Franken reduzieren. Im Dezember wird das Parlament über die Vorstösse befinden (zum Artikel).

Unzureichende Förderprogramme

In seinem im Mai veröffentlichten Lagebericht über die Schweizer Wirtschaft vertrat der Bundesrat die Ansicht, dass die Schweizer Wirtschaft der Rezession gut standhält und nicht allzu sehr unter der protektionistischen Politik anderer Staaten leidet. Wie Bundesrat Guy Parmelin bereits im Frühjahr sagte, gehe es lediglich darum, die Rahmenbedingungen für Unternehmen weiter zu verbessern, insbesondere über Förderprogramme in den Bereichen Klima und Energie. Offensichtlich hatte dies bisher jedoch nicht den gewünschten Effekt, denn Swiss Steel kommunizierte vor kurzem, in ihrem Stahlwerk in Emmenbrücke 130 Stellen zu streichen (zum Artikel). Auch Stahl Gerlafingen kündigte eine weitere Massenentlassung an, hat nun aber entschieden, auf den Stellenabbau vorerst zu verzichten (zum Artikel).

Klimapolitik und Industrie im Einklang

Matteo Pronzini, Branchenverantwortlicher für die MEM-Industrie bei der Unia, sagt:

Wenn Guy Parmelin sagt, die Regierung könne nichts tun, ist das eine Heuchelei.

Matteo Pronzini. (Foto: Keystone)

Bei der Landwirtschaft könne man sehen, was möglich wäre. Pronzini sagt: «Stahl Gerlafingen hat viele Investitionen getätigt, um einen Stahl zu produzieren, dessen CO2-Bilanz nur halb so hoch ist wie die seiner ausländischen Konkurrenten.» Nach Ansicht des Gewerkschafters geht es nicht unbedingt darum, Unternehmen zu subventionieren, sondern darum, die Erreichung der Klimaziele in Einklang mit der Industriepolitik zu bringen: «Man könnte zum Beispiel verlangen, dass öffentliche Baustellen mit gutem Beispiel vorangehen und Lieferanten mit geringen CO2-Emissionen beauftragen.» Matteo Pronzini verweist auch auf die Verantwortung der Banken, die zu hohe Ansprüche an den Industriesektor stellen, sowie auf die Verantwortung der Aktionäre, die immer gieriger nach Dividenden sind. Pronzini sagt:

Insgesamt bleibt unsere Industrie aber leistungsfähig, dank den Fähigkeiten und dem Engagement der Arbeitnehmer.

Liberale Stimmen für Industriepolitik

In Wirtschaftskreisen und liberalen Think-Tanks wurden in letzter Zeit vermehrt Stellungnahmen gegen eine staatliche Industriepolitik abgegeben und stattdessen für eine Deregulierung plädiert. Es gibt jedoch auch abweichende Stimmen der Rechten, wie die des FDP-Politikers Olivier Feller, der in der Zeitung «24 heures» daran erinnerte, dass in den 1990er Jahren einer von drei Angestellten in der Schweiz im Industriesektor tätig war, während es heute nur noch einer von fünf ist. Der Waadtländer Nationalrat sagte:

Wenn alle Länder um uns herum ihre Industrien finanziell unterstützen, um den ökologischen Übergang zu gewährleisten oder ihre Abhängigkeit vom Ausland zu verringern, sehe ich nicht, wie die Schweiz sich aus der Affäre ziehen könnte, ohne etwas zu tun.

*Dieser Artikel wurde zuerst in der französischsprachigen Unia-Zeitung «L’Evénement syndical» veröffentlicht und erscheint hier in einer leicht abgeänderten Version. 

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