Abstimmungsresultate zeigen: Das Volk schützt seine Kaufkraft
Ohrfeigen-Jahr für die Sozialabbau-Koalition

Die bürgerliche Parlamentsmehrheit holte 2024 Ohrfeige um Ohrfeige. Sie nimmt die ­Sorgen und Nöte der ­Mehrheit nicht ernst. Die ­grosse ­Frage: Wann begreifen die ­Rechten endlich (wieder), dass ­Sozial­politik gegen die Gewerkschaften nicht funktioniert?

LANGE GESICHTER BEI DEN AHV-13-GEGNERN: (v. l.) Monika Rühl (Economie­suisse), Roland A. Müller und Vincent Simon (beide Arbeitgeberverband) und Bettina Balmer (FDP ZH). (Foto: Keystone)

Es begann mit dem historischen Ja zur 13. AHV-Rente im März. Dieser Ausbau des wichtigsten Schweizer Sozialwerkes traf die bürgerlichen Parteien ins Mark. Dass am gleichen Tag auch der ewige Traum der Rechten vom höheren AHV-Alter für alle sang- und klanglos unterging, hob die Stimmung der rechten Politikerinnen und Politiker auch nicht. Zum Teil haben sie sich bis heute nicht davon erholt. Sie trötzeln oder drohen gar offen mit «Rache». Besonders bitter:

Mit dem Nein zur BVG-Reform im September zeigte das Volk SVP, FDP, GLP und Mitte gleich noch einmal die rote Karte. Und im November holten sich die Immobilienlobby und die Strassenfetischisten eine Volksohrfeige ab.

Einzig die Krankenkassenlobby konnte feiern. Doch dafür, dass sich eigentlich ausschliesslich die Gewerkschaften und eine Mehrheit der SP für ein Nein eingesetzt haben, sind 46,7 Prozent Nein-Stimmen kein schlechtes Resultat.

Kaufkraft, Kaufkraft, Kaufkraft

Was alle Vorlagen verbindet, ist die zentrale Frage: Was heisst das für mein Haushaltsbudget? Dabei ist es nicht etwa so, dass eine Mehrheit plötzlich zu rappenspaltenden Geizhälsen geworden wäre, wie das viele Rechte in Politik und Medien behaupten. Es ist viel eher so, dass nach zwei Jahrzehnten Steuerpolitik für Reiche und Superreiche immer mehr Menschen begreifen, dass bürgerliche Sozial-, Gesundheits- und Finanzpolitik ihnen nichts bringt, im Gegenteil. Schlimmer noch: sie haben real immer weniger im Portemonnaie. ­Darum haben sie für mehr AHV gestimmt und gegen ­höhere BVG-Abzüge für weniger Rente. Darum haben sie gegen die Rauswurf-Vorlage der Immobilienhaie gestimmt, weil die Mieten heute schon unanständig und teilweise ungesetzlich hoch sind.

Unglaubwürdige Rechte

Die SVP gewinnt Wahlen, weil sie ebenso schlau wie dumpfbackig auf alle Fragen nur eine Antwort gibt: «Die Ausländer sind schuld.» Nun gibt es Menschen, die das tatsächlich glauben. Doch immer mehr merken, dass sie SVP gewählt haben, weil sie «weniger Ausländer» wollten. Bekommen haben sie allerdings eine Politik im Interesse der Reichen und Superreichen. Darum stimmen sie im konkreten Fall mit den Gewerkschaften. Die haben schlicht die grössere Glaubwürdigkeit als die Milliardärspartei SVP, wenn es um die Lage der Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen geht.

Die FDP wanzt sich in Sachen Fremdenfeindlichkeit in den letzten Monaten unverfroren an die SVP ran, was vor allem dem Original nützt. Ansonsten betreibt sie eine marktradikale Politik der sozialen Kälte, deren Folgen unterdessen der angeblich von der FDP vertretene Mittelstand im eigenen Portemonnaie spürt. Die Mitte schwankt zwischen sozialem Ausgleich im ­Nationalrat und reaktionärem Marktradikalismus im Ständerat. Und die zu Recht bei den letzten Wahlen dezimierte GLP blinkt in der Öffentlichkeit ökologisch und gesellschafts­liberal, ihre Fraktion stimmt dagegen markt­radikal.

Auf den Punkt:

Im nationalen Parlament gibt es eine harte Sozialabbauer-Mehrheit aus SVP, FDP, GLP und Mitte. Im Bundesrat gibt eine marktradikale SVP-FDP-Mehrheit den Ton an. Doch die Mehrheit der Stimmenden glaubt Bundesrat und Parlament in konkreten Fällen immer weniger, dass diese ihr reales Leben verbessern. Ziehen die rechten Parteien Lehren ­daraus?

AM VOLK VORBEI: Die Bürgerliche Mehrheit im Parlament und Bundesrat geniesst nicht das Vertrauen des Stimmvolks. (Foto: Getty Images)

Fahrlässige Bosse

Das wird sich in den kommen Tagen, Wochen und Monaten auch bei den Auseinandersetzungen um die 10-Millionen-Initiative der SVP und das «Rahmenabkommen 2.0» mit der EU zeigen. Bisher lassen Bundesrat, FDP, GLP, Mitte und die Arbeitgeberverbände wenig Bereitschaft erkennen, die Sorgen und Nöte der Lohn­­­abhängigen ernst zu nehmen. Sie träumen immer noch vom Rahmenabkommen I, bei dem sie Hand in Hand mit den Marktradikalen in der EU versuchten, den Schweizer Lohnschutz zu schleifen und Sozial- und Lohndumpern freie Bahn zu gewähren. Damit arbeiten sie der SVP in die Hände: die will nämlich auch keinen Lohnschutz, aber vor ­allem eine isolationistische Schweiz. Sie will Arbeitsmigrantinnen und -migranten diskriminieren und damit noch stärker ausbeuten, wohlwissend, dass ­damit auch die Löhne aller anderen unter Druck kommen.

Klare Gewerkschaften

Die Gewerkschaften dagegen haben immer klargemacht, dass sie für eine vertiefte Zusammenarbeit mit der EU stehen. Die Schweiz muss ein stabiles Verhältnis zur EU aufbauen, von dem die breite Bevölkerung profitiert: mit mehr sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit, Arbeitnehmendenschutz und Personenfreizügigkeit.

Ein allfälliges neues Abkommen muss dazu beitragen, die Rechte der Arbeitnehmenden und ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Hier gibt es viele Ansätze, die im Inland gelöst werden können, ohne mit der EU Probleme zu bekommen. Dies einfach darum, weil sie sich an den vor sieben Jahren von der EU beschlossenen Grundsätzen für eine «europäische Säule sozia­ler Rechte» orientieren. Dazu gehören:

Verbesserte Mindeststandards bei Arbeitsverträgen; die Durchsetzung von Lohngleichheit; eine Elternzeit, die Mutterschafts- und Vaterschaftsurlaub ergänzt; Mitbestimmungsrechte in Unternehmen; die Gleichbehandlung von sogenannt atypischen Arbeitsverhältnissen wie Temporärarbeit usw.; Mindestlöhne und die Förderung der GAV-Abdeckung und die Stärkung der unternehmerischen Sorgfaltspflicht.

Von all dem wollen die Arbeitgeberverbände und die bürgerliche Parlamentsmehrheit bisher nichts wissen.

Bereits in der jetzt kommenden Wintersession wird sich in Ansätzen zeigen, ob FDP, GLP und Mitte aus dem für sie ohrfeigenreichen Jahr 2024 etwas gelernt haben. Oder in den nächsten Volkshammer laufen wollen. Denn ein Abkommen mit der EU, von dem die Lohnabhängigen nichts haben, hat keine Chance vor dem Volk.


Kantonale Abstimmung IDemokratie-Defizit in Basel bleibt

So wie die ganze Schweiz und die meisten Kantone und Gemeinden hat auch der Kanton Basel-Stadt ein Demokratie-Defizit. Daran hat sich am 24. November nichts geändert: 55,6 Prozent der Stimmenden lehnten ein Einwohnerinnen- und Einwohnerstimmrecht ab. Ange­stossen hatte die Abstimmung SP-Grossrätin Edibe Gölgeli. Am Wahlsonntag sprach sie trotz dem mehrheitlichen Nein von einem «stolzen Resultat». Denn: «Als wir vor 14 Jahren darüber abstimmten, wurde es noch mit 80 Prozent abgelehnt, dieses Mal nur mit 56 Prozent.» Für Gölgeli ist klar: «Es braucht einen weiteren Anlauf.» Denn das Demokratiedefizit wird immer grösser: In Basel-Stadt wird bis in einigen Jahren nur noch eine Minderheit stimmberechtigt sein, bald also eine Minderheit über eine Mehrheit bestimmen.

GIBT NICHT AUF: Die Basler Grossrätin Edibe Gölgeli. (Foto: zvg)

Kantonale Abstimmung IITransparenz bei Partei­spenden in Schaffhausen

Mit Händen und Füssen und arrogantem Machtgehabe wehrten sich die Bürgerlichen in Schaffhausen gegen Transparenz bei der Politfinanzierung – fast fünf Jahre lang. Jetzt sagten die Stimmenden deutlich Ja zur Umsetzungsinitiative von Juso, SP und Grünen. Diese war nötig, weil die rechte Parlamentsmehrheit sich bis heute weigerte, einen Volksentscheid vom Februar 2020 umzusetzen. Damals hatte das Stimmvolk eine Juso-Initiative angenommen, die verlangt, dass alle Parteien alle Spenden offenlegen müssen. Das passte den rechten Parteien nicht, und flugs überwiesen sie einen FDP-Vorstoss, der den Artikel gleich wieder aus der Verfassung streichen wollte.

Juso, SP und Grüne reichten eine Umsetzungsinitiative ein. Uns doch egal, sagten die Rechten und erklärten die Initiative für ungültig. Geht nicht, sagte das Bundesgericht – und so konnte das Volk am Sonntag zum zweiten Mal für mehr Transparenz stimmen. Die von 59 Prozent angenommene Initiative bringt strengere Transparenzregeln in Gemeinden mit über 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Bei Kampa­gnen über 3000 Franken müssen Parteien und Kandidierende ihre Spenden offenlegen. Die rechten Parteien trötzelten am Abstimmungssonntag weiter. SVP-Kantonsrat Mariano Fioretti etwa jammerte im SRF-«Regionaljournal»:

Die Leute sind nur neugierig, wer Geld spendet. Das ist aus meiner Sicht falsch. Wen man unterstützt, geht niemanden etwas an.

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