Schweizer Schuhkonzern in Tunesien
Rieker trampelt über Arbeitsrechte

Ein Streik in der tunesischen Fabrik des Schweizer Schuhkonzerns Rieker führte zur Verhaftung von Mitarbeitenden und Gewerkschaftern. Am Hauptsitz des Konzerns in Thayngen SH ist (anscheinend) niemand da, der sich zum Fall äussern will. 

SOLIDARISCH: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus dem ganzen Land sind angereist, um die Streikenden in Kairouan zu unterstützen. (Foto: zvg / Jamel Cherif)

Rund 800 Arbeiter und vor allem Arbeiterinnen produzieren in der Ritun-Fabrik Schuhe für die europäische Kundschaft. Ritun ist die tunesische Tochter von Rieker, einem Schuhkonzern aus dem Kanton Schaffhausen. Er beschäftigt 20’000 Mitarbeitende und hat Fabriken in Vietnam, der Slowakei, Marokko und Tunesien. Die tunesischen Fabrikarbeiterinnen chrampfen für einen Tiefstlohn von 200 Euro pro Monat, ohne Gesundheits- und Kündigungsschutz. Wer sich wehrt, wird entlassen. So zuletzt 27 Mitarbeitende, die sich gewerkschaftlich organisieren wollten.

Verhaftung wegen Streiks

Grund genug für einen Streik, der im November die Produktion stilllegte. Jamel Cherif (55) ist Gewerkschafter beim tunesischen Gewerkschaftsbund und war am Streik beteiligt. Er sagt:

Bereits seit einem Jahr führen die Arbeiterinnen und Arbeiter von Ritun einen Kampf für ihre Gewerkschaftsrechte und zur Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen.

In den letzten Monaten habe sich der Konflikt mit der Firmenleitung verschärft, bis hin zu den 27 Entlassungen.

IN DER WÜSTE TUNESIENS: Hier produzieren Büezerinnen zum Tiefstlohn Rieker-Schuhe. (Foto: Google Maps)

Jamel Cherif sagt: «Beim Streik am 14. November hat mich die Polizei zusammen mit acht Arbeiterinnen und Arbeitern festgenommen.» Wegen «Behinderung der Arbeitsfreiheit». Die fünf verhafteten Frauen kamen nach einigen Tagen wieder frei, die Männer blieben in Haft.

Gewerkschaftliche Solidarität

Eine Woche nach dem Streik kamen Cherif und die drei Arbeiter vor ein Gericht in der Bezirkshauptstadt Kairouan. Dies löste unter tunesischen Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern grosse Empörung und eine Solidaritätswelle aus. Aus verschiedenen Regionen Tunesiens reisten sie nach Kairouan, um die Streikenden zu unterstützen. Die Arbeiter wurden zu drei Monaten und Jamel Cherif zu sechs Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Cherif sagt:

Wir werden das Urteil anfechten und uns weiter für die Wiedereinstellung der entlassenen Beschäftigten einsetzen.

Rieker-Millionär am Vierwaldstättersee

Der auf der Rieker-Website aufgeschaltete Code of Conduct zur Textil-Modewirtschaft verspricht den Arbeitnehmenden eigentlich das Recht auf Koalitions- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Tarifverhandlungen. Die tunesische Rieker-Fabrik scheint diese Versprechen auf gravierende Art zu verletzen.

Den Firmenerben und Verwaltungsrat Markus Rieker (80) kümmert das kaum. Über seine Rieker Antistress Group Holding ist er massgeblich an den Geschäften von Rieker beteiligt. Der gebürtige Deutsche liess sich im Kanton Nidwalden einbürgern und lebt gemäss dem Magazin «Bilanz» als mindestens 500facher Millionär in einem Haus am Vierwaldstättersee.

Auf der Linkedin-Seite von Rieker fragt der Schuhkonzern seine Mitarbeitenden, welche Art von Schuh sie gerne wären. Der Schuh mit den ausklappbaren Spikes oder doch eher der klassische Rieker-Antistress-Schuh? Auch zum Auslandaufenthalt eines Schweizer Lernenden beim Produktionsstandort in Tunesien findet sich ein kurzer Erfahrungsbericht. Doch viel mehr zur Fabrik in Tunesien erfährt man bei Rieker nicht. Auch die telefonische Anfrage bei der Rieker-Zentrale in Thayngen SH führt nicht weiter. Die zuständige Abteilung sei die ganze Woche abwesend, heisst es bei Rieker. Die Zeit vor Weihnachten sei ungünstig. 

Pionierland des Widerstands: 100 Jahre Gewerkschaftsbewegung in Tunesien

GEWERKSCHAFTLICHER VORREITER: Mohamed Ali El Hammi. (Foto: Wikidata)

Vor hundert Jahren, im Dezember 1924, gründete Mohamed Ali El Hammi (1890 bis 1928) gemeinsam mit tunesischen Gewerkschaftern die Confédération générale tunisienne des travailleurs (CGTT). Die CGTT war damit die erste unabhängige Gewerkschaft im französischen Kolonialreich und Ali El Hammi ihr erster Generalsekretär. Bereits wenige Wochen nach der Gründung der CGTT kam es zu ersten Streiks von tunesischen Hafen- und Industriearbeitern. 

Aus der Provinz. Ab 1881 war Tunesien unter französischer Herrschaft. Die Hauptstadt Tunis entwickelte sich in dieser Zeit zu einem boomenden, kosmopolitischen Zentrum des Mittelmeerraums. Ali El Hammi zog es im Alter von 18 Jahren aus der Kleinstadt El Hamma nach Tunis, wo er als einer der ersten Tunesier einen Führerschein erwerben konnte. Mit diesem stellte er sich als Fahrer in den Dienst des österreichisch-ungarischen Konsulats und lernte Deutsch, Französisch und Italienisch.

Verbot und Verbannung. Zwei Monate nach der Gründung der CGTT verbot die französische Kolonialverwaltung den tunesischen Gewerkschaftsbund. Im November 1925 verbannte sie El Hammi und weitere tunesische Gewerkschaftsführer nach Neapel, wo diese unter der faschistischen Diktatur von Benito Mussolini verfolgt wurden. El Hammi konnte flüchten, starb aber 1928 unter ungeklärten Umständen bei einem Autounfall in Saudi-Arabien. 

Arabischer Frühling mit gewerkschaftlichem Support

Als Nachfolgeorganisation der CGTT wurde 1946 die Union générale tunisienne du travail (UGTT) gegründet, die bei der Erlangung der tunesischen Unabhängigkeit 1956 eine entscheidende Rolle spielte. Auch beim Ausbruch des Arabischen Frühlings, der mit der Selbstverbrennung des tunesischen Strassenverkäufers Mohamed Bouazizi im Jahr 2010 begann, waren Mitglieder der UGTT federführend. Die Gewerkschaftsbasis zwang die Führung des staatlichen Gewerkschaftsbundes, sich auf die Seite der Aufständischen zu stellen. Die UGTT erhielt 2014 zusammen mit drei weiteren Organisationen den Friedensnobelpreis für ihr Mitwirken beim Demokratisierungsprozess in Tunesien. 

Social-Media-Stars in Gefahr

Doch in den letzten Jahren konnten weder die neue Verfassung noch die gewerkschaftlichen Massendemonstrationen verhindern, dass Präsident Kais Saied (66) in Tunesien erneut eine Diktatur installierte. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2024 liess sich der konservative Politiker für weitere fünf Jahre im Amt bestätigen. Weil etliche Oppositionelle, Gewerkschafterinnen und Journalisten im Gefängnis sind, boykottierten fast drei Viertel der Wahlberechtigten die Präsidentschaftswahl. Inzwischen riskieren sogar weitgehend apolitische Social-Media-Stars eine Inhaftierung, zuletzt etwa die schwangere Lady Samara, die mit ihren Schminktipps und Hochzeitsfotos auf Instagram ein Millionenpublikum erreichte.

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