20 Jahre Unia: Das grosse Interview mit Präsidentin Vania Alleva
«Klar, wollen wir als Unia grösser werden»

Vor 20 Jahren beschlossen fünf ­Gewerkschaften einen historischen Zusammenschluss, allen politischen und ideologischen Gegensätzen zum Trotz. Unia-Präsidentin Vania ­Alleva spricht über Reife, Wachstum und die Spielereien mit der 1.

UNIA-PRÄSIDENTIN VANIA ALLEVA: «Ziel war es, nach den krisenhaften 1990er Jahren eine schlagkräftige Organisation, eine ‹Gewerkschaft für harte Zeiten› zu bilden, die streik-, referendums- und initiativfähig sein sollte.» (Foto: Gaetan Bally)

work: Vania Alleva, in drei Worten, was bedeutet Unia für Sie?
Vania Alleva: Uniti siamo forti! (Gemeinsam sind wir stark!)

Die Unia ist jetzt 20 Jahre alt, also definitiv erwachsen. Sie haben dieses «Kind» gross werden sehen. Was erfüllt Sie mit Stolz, wenn Sie zurückblicken?
Ich bin stolz darauf, wie viele Menschen in der Unia zusammenkommen, weil wir zusammen Gutes bewirken können. All die Ideen, Erfahrungen und Hoffnungen, welche die Arbeitnehmenden und Mitarbeitenden einbringen, um für eine bessere Schweiz, für eine bessere Welt zu kämpfen – und all die positive Energie, die wir alle immer wieder daraus ziehen können!

Und welche Ereignisse möchten Sie lieber vergessen?
Die Welt ist manchmal ärgerlich und mühsam. Zum Beispiel dann, wenn eine Männermehrheit die Erhöhung des Frauenrentenalters beschliesst und dazu nur rund 30’000 Stimmen ausschlaggebend sind (AHV-21-Abstimmung vom September 2022, Red.). Aber wir können es uns schlicht nicht leisten, solche Niederlagen zu vergessen, denn wir müssen daraus lernen und erst recht weitermachen. Vergessen ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann.

Sie waren dabei, als die Unia aus der Taufe gehoben wurde. Welche Hürden und Bedenken mussten für diesen Zusammenschluss aus der Welt geschafft werden?
Nicht nur für die einzelnen Arbeitnehmenden, auch für die Gewerkschaften gilt:

Gemeinsam sind wir stärker.

Vor 20 Jahren haben unsere Vorgängergewerkschaften erkannt, dass wir den Aufbau der Gewerkschaftsbewegung in den wachsenden Dienstleistungsbranchen nur schaffen, wenn wir uns zusammen­schliessen, statt uns voneinander abzugrenzen. Die Gewerkschaften GBI, Smuv und VHTL waren sehr gegensätzlich und standen teils in Konkurrenz. Die Unterschiede waren politisch und ideologisch untermauert. Trotzdem haben sie sich für einen Zusammenschluss entschieden. Das war nur möglich, weil sowohl die grosse GBI als auch der grosse Smuv eine starke Basis hatten, die daran glaubte, dass gemeinsam mehr erreicht werden kann.

Ziel war es, nach den krisenhaften 1990er Jahren eine schlagkräftige Organisation, eine «Gewerkschaft für harte Zeiten» zu bilden, die streik-, referendums- und initiativfähig sein sollte. Dass wir diese Fähigkeiten immer wieder beweisen, auch im Zusammenspiel mit dem SGB, macht uns zu einem einflussreichen Player in der Schweizer Wirtschafts- und Politiklandschaft.

Wie ist eigentlich das Logo entstanden? Und ist dieses «i» wirklich eine 1?
Unseren Namen und unser Logo finde ich auch nach all den Jahren toll. Das war damals aber eine riesige Diskussion. Der Name unserer Gewerkschaft stammt von der «kleinen Unia», die ein erstes gemeinsames Aufbauprojekt von GBI und Smuv war und die mit der gewerkschaftlichen Organisation in den Dienstleistungsbranchen loslegte. Dass dieser Name für die grosse Unia übernommen wurde, steht für die Hoffnung, dass wir in diesen Branchen aktiv und erfolgreich sein wollen und können. Der Name widerspiegelte gut Sinn und Geist dieser Fusion. Die 1 im Logo als «i» ist eine Spielerei rund um die Idee «der Einheit», «Unia, die Eine».

PREMIERE: Am Gründungskongress in Basel hat die Unia erstmals ihr Logo und die Outfits präsentiert. (Foto: Keystone)

2012 wurden Sie Co-Präsidentin, 2015 als erste Frau ­Präsidentin. In Sachen Gleichstellung waren die Gewerkschaften lange nicht unbedingt fortschrittlich. Wirkte und wirkt sich das auch auf Ihre Arbeit aus?
Durch den gewerkschaftlichen Aufbau in den Dienstleistungsbranchen ist die Unia weiblicher geworden. Dass ich Präsidentin werden konnte, ist auch Ausdruck dieses Wandels. Die Unia war reif für eine Frau an der Spitze. Ich würde sogar sagen, dass die Organisation stolz darauf war. Nicht nur die Frauen, sondern auch die Männer.

Extern war es schon so, dass ich gerade in Verhandlungs­situationen von Arbeitgebern mit männlichen Verhaltensmustern konfrontiert war und eher unterschätzt wurde.

Da galt es, sich nicht ins Bockshorn treiben zu lassen. Die Arbeitgeber mussten schnell merken, dass ich zwar freundlich im Umgang bin, aber deshalb nicht weniger hart und entschieden für die Interessen der Arbeitnehmenden kämpfe.

Die Unia ist heute die grösste berufsübergreifende Gewerkschaft des Landes. Möchte sie noch grösser werden und in neue Berufsfelder einsteigen?
Klar, wollen wir als Unia grösser werden. Wir wollen ja nicht nur das Erreichte verwalten. Wir wollen, dass möglichst alle Arbeitnehmenden in einer Branche der Gewerkschaft beitreten. Je zahlreicher wir sind, desto stärker sind wir und desto besser können wir die Interessen der Arbeitnehmenden durchsetzen. Aber es geht keineswegs ausschliesslich um die Mitgliederzahlen. Sondern darum, ein Kräfteverhältnis aufzubauen. Wir müssen auch gezielt und fokussiert vorgehen. Vor allem im Dienstleistungssektor müssen wir zulegen. Und insbesondere in der Pflege, einem wachsenden und gesellschaftspolitisch immer wichtigeren Bereich. Das ist die Basis unserer Erfolge:

Trotz heftigem ideologischem Gegenwind haben wir die Gesamtarbeitsverträge in der Schweiz gestärkt. Heute profitieren 1,3 Millionen Arbeitnehmende von einem allgemeinverbindlichen GAV.

Das sind dreimal mehr als vor unserer Gründung. Und sogar 1,9 Millionen werden durch GAV-Mindestlöhne geschützt. Wir sprechen immer mehr Frauen an und haben Fuss gefasst in Bereichen, die Gewerkschaftswüsten waren. Ich denke hier an den Detailhandel, die private Pflege oder auch die Reinigung. Wir werden respektiert, nicht zuletzt, weil wir bei Bedarf in der Lage sind, erfolgreiche Streiks zu organisieren. Auf dem Bau, aber auch in Industrie- und Dienstleistungsunternehmen. Und wir sind in der Lage, in einem bürgerlich geprägten Land immer wieder politische Mehrheiten zu bauen, wie der Sieg für die 13. AHV-Rente gezeigt hat. Auf all das dürfen wir wirklich stolz sein!

BAUPROTEST: 2018 verteidigt die Unia mit Tausenden Büezerinnen und Büezern erfolgreich das Rentenalter 60 auf dem Bau. (Foto: Keystone)

Wie ist das Verhältnis mit den christlichen Organisationen wie der Syna? Hier gab es in der Vergangenheit immer wieder Konflikte.
Wir arbeiten zurzeit ausgezeichnet zusammen, und das ist auch gut so. Wir wissen, dass wir nur zu verlieren haben, wenn es uns nicht gelingt, gemeinsame Positionen zu formulieren. Das gilt für GAV-Verhandlungen und Kampagnen wie auch für politische Fragen. Es ist zum Beispiel entscheidend, dass wir in den aktuellen Debatten um die Bilateralen III gemeinsam und geschlossen den Lohnschutz verteidigen.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, verlieren die Gewerkschaften überall Mitglieder, obwohl die Arbeits­bedingungen immer schwieriger werden. Wie lässt sich das erklären? Und wie lässt sich dieser Trend umkehren?
Wir leben in einer von Individualisierung und Digitalisierung geprägten Gesellschaft. Um sich aber gewerkschaftlich zu engagieren, braucht es die Überzeugung, dass Arbeitnehmende nur gemeinsam Verbesserungen erreichen können. Diese Überzeugung ist aber alles andere als gegeben. Und ob sich dieser gesellschaftliche Trend umkehren lässt, weiss ich nicht. Da und dort entstehen Gegenbewegungen. Für uns ist zentral, auch im Kleinen immer wieder kollektive Solidarität erlebbar zu machen. Das ist entscheidend. Das ist unsere Kraft.

Welches sind weitere Herausforderungen?
Es sind die grossen sozialen Fragen, welche die Menschen beschäftigen: In der Schweiz sind die Löhne in den letzten Jahren real, also gemessen an der Teuerung, gesunken. Die Top-Löhne und Kapitaleinkommen steigen hingegen weiter an. Das ist nicht nur schlecht für die Arbeitnehmenden, sondern auch schlecht für die Wirtschaft. Und es ist schlecht für den sozialen Zusammenhalt. Soziale Ungleichheit gefährdet die Demokratie. Das sieht man auch, wenn man über die Grenzen hinausschaut. Es ist gefährlich, wenn sich die Geldeliten – Leute wie die Blochers oder Musk – ihre politische Macht kaufen können und sich, wie im Falle von Musk, auf der ganzen Welt für einen rechtsextremen Umsturz starkmachen. Da müssen wir entschieden Gegensteuer geben.

Zurück zur Schweiz. Gibt es Unterschiede zwischen der deutschen und der lateinischen Schweiz?
Natürlich gibt es gesellschaftliche und wirtschaftliche Unterschiede im Land. Aber im Grundsatz stellt sich überall die gleiche Frage des sozialen Ausgleichs, der sozialen Gerechtigkeit. Reale Unterschiede gibt es insbesondere in den Grenzkantonen. In der lateinischen Schweiz gibt es eine stärkere Gewerkschaftstradition und eine stärkere Mobilisierungsfähigkeit, die auch für die nationalen Kampagnen sehr wichtig ist. Darauf sind wir stolz.

FRAUEN IM FOKUS: Der Gleichstellungskampf der Unia erhielt mit dem Frauenstreik 2019 neuen Schwung. (Foto: Freshfocus)

Wo steht die Unia in 20 Jahren?
Sie ist eine wachsende und schlagkräftige, kämpferische Gewerkschaft für alle Arbeitnehmenden in der privaten Wirtschaft. Wir sind im wachsenden Dienstleistungsbereich gewerkschaftlich weitergekommen und setzten die Interessen der Beschäftigten durch.

Und etwas weniger weit in die Zukunft geblickt: Was steht im Jahr 2025 an?
Wir müssen die Gesamtarbeitsverträge gegen heftige Angriffe der Arbeitgeber verteidigen. In diesem Jahr besonders den LMV im Bauhauptgewerbe. Hier sind wir mit einer stark ideologischen Härte der Spitze des Baumeisterverbandes konfrontiert. Aber auch in anderen Branchen mobilisieren wir, um Fortschritte bei den Arbeitsbedingungen und den Löhnen zu erreichen, so beim grössten Branchen-GAV überhaupt, dem L-GAV Gastgewerbe.

Auf politischer Ebene müssen wir die demagogische SVP-Initiative zur «10-Millionen-Schweiz» bodigen, welche die Personenfreizügigkeit und den Lohnschutz abschaffen will. Das kommt nicht in Frage, das richtet sich frontal gegen die Arbeitnehmenden in diesem Land! Auch bei den ­bilateralen Verträgen mit der EU darf der Lohnschutz keinesfalls geopfert werden. Wir kämpfen dafür, dass das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» auch effektiv durchgesetzt werden kann.

Weiter müssen wir die Blockade rund um einen besseren Kündigungsschutz überwinden. Entweder gelingt uns dies jetzt in der Auseinandersetzung um die neuen bilateralen Verträge oder dann mit der bereits beschlossenen Initiative.

Wir bereiten uns auch auf gewichtige Abwehrkämpfe vor. Aufgrund unserer Siege bei der 13. AHV-Rente und der BVG-Reform ist der Gegenwind viel stärker, und die Angriffe sind massiv. Das erleben wir auch im Rahmen der EU-Debatte, in der ideologische Arbeitgebervertreter uns möglichst klein halten wollen. Oder in den parlamentarischen Vorstössen, die das Arbeitsgesetz aushebeln oder die gesetzlichen Mindestlöhne schleifen wollen.

Dass wir konsequent die Interessen der Arbeitnehmenden vertreten, ist offenbar einigen ein Dorn im Auge. Das wieder­um zeigt: wir sind auf dem richtigen Weg.

Unia: Historischer Zusammenschluss

Die Unia entstand am 16. Oktober 2004 aus dem Zusammenschluss der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI), dem Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (Smuv), der Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel (VHTL), der alten (im Dienstleistungssektor tätigen) unia sowie von actions, der Genfer Gewerkschaft des Tertiärsektors. Ihre Arbeit nahm sie am 1. Januar 2005 auf.

Heute ist sie die grösste Gewerkschaft in der Schweiz. Sie organisiert die Arbeitnehmenden der Sektoren Industrie, Gewerbe, Bau und privater Dienstleistungsbereich. Sie vertritt die ­Interessen aller Arbeitnehmenden und bietet ihren Mitgliedern ­Beratung, Rechtsschutz und weitere Dienstleistungen. Sie führt auch die grösste Arbeitslosenkasse der Schweiz. In der Unia sind rund 180 000 Arbeitnehmende zusammengeschlossen. Sie ist in 13 Regionen mit rund 110 lokalen Sekretariaten gegliedert. Die Unia hat insgesamt 265 Gesamtarbeitsverträge abgeschlossen, von denen rund 1,3 Millionen Arbeitnehmende profitieren. 

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