Nach Zwangsheirat, Gewaltehe und Todesdrohungen:
Richter wollen Mutter mit Kind ausschaffen – weil sie arm sind!

Gastroarbeiterin Rojda Aslan* (38) gelang die Flucht aus einer Ehe voller Gewalt. Dann brauchte sie Sozialhilfe. Jetzt soll sie deshalb mit Tochter Berfin* (11) die Schweiz verlassen. Der Uno-Kinderrechtsausschuss ist alarmiert. 

SOLL DIE SCHWEIZ VERLASSEN, WEIL SIE ARM IST: Rojda Aslan* wird von den Schweizer Behörden im Stich gelassen. (Foto: Matthias Luggen)

Rojda Aslans* Rettung kommt an Heiligabend 2024. Aber nicht vom Himmel, sondern aus Genf, wo das Uno-Hochkommissariat für Menschenrechte einen brisanten Entscheid gefällt hat: Die Schweiz darf Aslan und ihre Tochter Berfin* vorläufig nicht ausschaffen. Vielmehr muss sie sich bis Mitte Juni vor dem Uno-Kinderrechtsauschuss erklären. Die Massnahme richtet sich gegen einen -Entscheid des Bundesgerichts. Dieses hatte erst letzten November der Vorinstanz vollumfänglich recht gegeben, wonach die «Entfernungsmassnahme» gegen Mutter und Tochter nötig und rechtens sei. Bei der Uno bestehen nun aber offenbar erhebliche Zweifel, ob die Schweiz in diesem Fall die Kinderrechtskonvention eingehalten habe.

Keine Zweifel hat Jurist Sven Kury. Zusammen mit dem Zürcher Migrationsrechtsexperten Marc Spescha verteidigt er die Rechte von Unia-Mitglied Aslan gegenüber den Behörden. Kury sagt:

Bei Sozialhilfebezügern verfolgt das Bundesgericht generell eine sehr strenge Praxis, aber dieses Urteil hat mich schlicht schockiert.

Besuch in Zuchwil bei Solothurn. Hier wohnen Mutter und Tochter in einer schlichten Blockwohnung. Berfin ist gerade vom Schwimm-unterricht zurückgekommen und sitzt jetzt zufrieden auf dem Stubensofa. Stolz erzählt sie work von ihren Kraul-Fortschritten. Und sie zeigt ihre beiden Wellensittiche. «Die hat mir die Nachbarsfamilie geschenkt», strahlt das Mädchen.

Verheiratet als Dreizehnjährige

Doch dann muss sie den Raum verlassen. Sie soll nicht dabei sein, wenn ihre Mutter die ganze Wahrheit erzählt. Sätze sagt wie:

Es begann am zweiten Tag nach Berfins Geburt.

Die 38jährige stammt aus einer mausarmen kurdischen Region in der Türkei. Aufgewachsen ist sie mit fünf Geschwistern. Die Mutter Näherin, der Vater Lastwagenfahrer, beide Analphabeten. Auch Aslan hat nie eine Schule besucht. Schon als 13jährige wird sie verheiratet. Mit 18 gebiert sie eine Tochter, später einen Sohn. Was sie über ihren Mann damals denkt? «Danach hat nie jemand gefragt», sagt sie. Doch nach zehn Jahren Zwangsehe hält sie es nicht mehr aus. Es kommt zur Scheidung. Obwohl ihr klar ist, dass sie damit getrennt wird von ihren Kindern.

Flucht ins Frauenhaus

Aslan lernt einen neuen Mann kennen, einen politischen Aktivisten, ständig verfolgt vom Staat. Nach einer Haftstrafe gelingt ihm die Flucht in die Schweiz, die ihm seither Asyl gewährt. Aslan ist hin und her gerissen. Soll sie ihrem Verlobten folgen? 2012 tut sie es. «Es war sehr hart», sagt sie heute, «hier kannte ich niemanden, verstand kein Wort und war von meinen Liebsten getrennt.» Doch Aslan heiratet erneut und bringt in Solothurn Berfin zur Welt. Dann beginnt «es».

«Zuerst hat er mich nur beschimpft und beleidigt», erzählt Aslan. Aber bald sei ihr neuer Mann gewalttätig geworden. Immer häufiger, immer brutaler, vier Jahre lang. Sie lebt völlig isoliert. Was genau sie in dieser Zeit durchmacht, will sie nicht öffentlich machen. Die Lektüre der Gerichtsakten ist jedenfalls nur schwer erträglich. Im Sommer 2017 kommt es fast zum Äussersten. Doch Aslan gelingt die Flucht ins Frauenhaus. Berfin nimmt sie mit. «Das Frauenhaus war meine Rettung!», ist sie überzeugt. Dort habe sie endlich durchatmen können und ihre Rechte kennengelernt. Zudem sei für Berfin und sie psychologische Hilfe organisiert worden. Aslan lässt sich scheiden, bemüht sich um Jobs, findet sie in Imbiss- und Reinigungsbuden, stockt bald auf ein 70-Prozent-Pensum auf. Sie besucht täglich einen Deutschkurs und kümmert sich auch noch um die traumatisierte Berfin. Mit ihrem Ex-Mann regelt sie die Besuchszeiten für die gemeinsame Tochter. Bis heute pflegt Berfin eine enge Beziehung zu ihrem Vater. Damit könnte die Geschichte enden. Doch das Migrationsamt des Kantons Solothurn wittert nach der Scheidung eine Chance.

Migrationsamt: «Kein Härtefall»

Kurz nach ihrem Aufenthalt im Frauenhaus muss Aslan nämlich eine Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) beantragen. Sie rechnet mit einer flotten Erledigung, so wie dies bis anhin stets der Fall gewesen war. Doch diesmal hält sie der Amtsschimmel über fünf Jahre hin – und lehnt dann ab:

Aslan wird aufgefordert, die Schweiz zu verlassen. Und zwar innert 50 Tagen. Ihre Tochter, obwohl im Besitz einer Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis), habe sie gleich mitzunehmen. Schliesslich liege die Obhut bei ihr.

Das Gesetz gewähre geschiedenen Ausländerinnen und Ausländern zwar Aufenthalt, wenn die Ehe mindestens drei Jahre gedauert habe. Was bei ihr der Fall sei. Doch Voraussetzung sei zudem eine erfolgreiche Integration. Oder aber wichtige persönliche Gründe wie eheliche Gewalt. Und diese Bedingungen seien nicht erfüllt. Aktenkundig sei nämlich «nur» die Gewalttat kurz vor ihrer Flucht. Ihre übrigen «Schilderungen» seien «sehr vage und allgemein». Zwar möge ihre Ehe «nicht einfach» gewesen sein, doch ein Härtefall sei nicht zu erkennen. Zumal sie «nicht ansatzweise» genug integriert sei. Begründet wird dies mit «massiven» und «selbstverschuldeten» Sozialhilfekosten, die sie seit ihrer Ankunft generiert habe. Und weil eine Besserung bei ihrem gegenwärtigen Gastrolohn «nicht realistisch» sei. Eine Rückkehr in die Türkei aber sei zumutbar. Denn dort habe Aslan ja Verwandte, und die «kulturellen Gepflogenheiten» kenne sie auch. All das beschied ihr der Kanton Solothurn am 8. März 2023, dem Internationalen Frauentag.

Drohung aus der Türkei

Die Wegweisung ist für Rojda Aslan ein Schock:

Ich konnte kaum mehr schlafen und hatte Todesangst.

Denn in der erzkonservativen Gegend, aus der sie komme, werde eine arme, geschiedene Frau nicht akzeptiert. Eine zweifach geschiedene Frau aber sei quasi Freiwild. Tatsächlich fängt «es» bereits wieder an: Weil Aslan mit ihren Kindern aus erster Ehe telefoniert hat, erfuhr ihr erster Ex-Mann von der möglichen Ausschaffung. Aslan: «Kürzlich hat er angerufen und gesagt: ‹Du wirst schon sehen, was ich mit dir mache.›»

Und dann Berfin… Für sie käme die Ausschaffung einer Katastrophe gleich, ist Aslan überzeugt. Weil alles wegbrechen würde, was ihr jetzt Halt gebe: ihre Schulfreundschaften, ihre Geburts- und Heimatstadt Solothurn, die Traumatherapie, die pädagogische Unterstützung und nicht zuletzt ihr Vater, den sie liebe. Jurist Sven Kury sagt dazu:

Die Kinderrechtskonvention verpflichtet die Schweiz, das übergeordnete Kindesinteresse vorrangig zu berücksichtigen. Doch hier haben die Behörden und Gerichte das Kindesinteresse einfach ausgeblendet.

Eine Verurteilung der Schweiz durch den Uno-Kinderrechtsausschuss hält er daher für wahrscheinlich. work bleibt dran.

* Namen geändert

Istanbul-Konvention: Bundesgericht pennt ­

Keinen Monat nachdem das Bundesgericht die Wegweisung von Rojda und Berfin Aslan bekräftigt hatte, setzte der Bundesrat eine Gesetzesänderung in Kraft, die in die genau gegentei­lige Richtung weist. Im Sommer 2024 hatte das Parlament nämlich beschlossen, die ausländerrechtliche Situation von Opfern häuslicher Gewalt zu verbessern. Seit 2025 können sich im Regelfall alle Ausländerinnen und Ausländer von ­ihrem gewalttätigen Partner ­trennen, ohne den Verlust der Aufenthaltsbewilligung zu ­befürchten. Einen solchen Anspruch hatten bisher nur Fami­lienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern sowie von Personen mit einer Niederlassungsbewilligung (Ausweis C). Damit ist der jahrelange Vorbehalt der Schweiz zur Istanbul-Konvention zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen Geschichte.

Aktuell läuft zudem das Vernehmlassungsverfahren zur Umsetzung der Initiative «Armut ist kein Verbrechen» von SP-Nationalrätin Samira Marti. National- und Ständerat haben dieser zugestimmt. Damit dürften künftig ausländische Personen nicht mehr wegen Sozialhilfebezugs ausgewiesen werden, es sei denn, sie hätten ihr Arbeitspotential ungenügend genutzt, um sich von der Sozialhilfe zu lösen.

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