Anhaltende Massenproteste in Serbien
Präsident Vučić hat sich mit den Falschen angelegt

Seit über drei ­Monaten ­organisieren die ­Studierenden in Serbien Massenproteste. Ihr Ziel: der Fall der korrupten ­Regierung. Die Studierenden Veljko Aleksić und ­Nikolina Bobar berichten für work ­direkt von den Protesten.

DIE STUDIERENDEN LASSEN SICH NICHT EINSCHÜCHTERN: Ihr Zeichen des Aufstands ist die rote, blutige Hand. (Foto: Keystone)

Massenproteste seit über drei Monaten, ein abgesetzter Premierminister und ein nervöser Präsident: In Serbien überschlagen sich zurzeit die Ereignisse. Unzufriedenheit herrscht im Land zwar schon länger. Doch ein eingestürztes Bahnhofsdach in der Stadt Novi Sad kostete 15 Menschen das Leben und brachte das Fass zum Überlaufen (work berichtete). Korruption und Vetternwirtschaft der Regierung lassen die Zukunftsperspektiven besonders für die jungen Menschen düster erscheinen. Serbische Studierende, Schülerinnen und Schüler führen die Proteste an.

Zunächst versuchte Präsident Aleksandar Vučić, den Aufstand zu igno­rieren. Dann spielte er ihn herunter. Doch jetzt wird er immer nervöser. Ende Januar trat der serbische Premierminister und Bürgermeister von Novi Sad, Miloš Vučević, zurück. Für die Studierenden ist aber klar: Das ist nur ein Ablenkungsmanöver und nicht der Rücktritt, den sie fordern. work hat mit zwei Studierenden aus Belgrad gesprochen, die bereits seit Wochen an den ­Protesten teilnehmen.

Die unermüdlichen Studenten

An dem Morgen, als Veljko Aleksić (20), Student der Internationalen Beziehungen in Belgrad, von der Tragödie in Novi Sad hörte, empfand er Wut und auch Verantwortung.

Ich fühlte mich verantwortlich, weil ich wie viele andere auch über die ganze Korruption wusste, aber nichts dagegen unternehmen konnte. Seither protestiere ich, weil ich nicht mehr zulassen will, dass unschuldige Menschen für finanzielle Vorteile sterben müssen.

Für den 20jährigen ist klar: «Freiheit und Demokratie fordert Engagement der Bevölkerung. Wenn wir stumm bleiben, gleiten wir unausweichlich in die Autokratie.» An den Protesten der Studierenden versammelten sich über 100’000 Menschen. Die aktuellen Proteste rufen das Jahr 2000 in Erinnerung. Damals gelang es serbischen Studierenden mit Massenprotesten, den amtierenden Präsidenten und angeklagten Kriegsverbrecher Slobodan Milošević zu stürzen. Präsident Vučić hat sich also mit den Falschen angelegt.

Vergangenes Wochenende wanderten über 500 Studierende den 80 Kilometer langen Weg von Belgrad nach Novi Sad. Das Ziel waren die Protestaktionen am 1. Februar in Novi Sad. Tausende Menschen besetzten dort drei städtische Donaubrücken – symbolisch für die drei Monate, die seit dem tragischen Unfall vergangen sind. Am selben Tag fanden auch in London, Ljubljana, Wien, Berlin, Bern und Zürich solidarische Kundgebungen statt.

IM PROTEST VEREINT: Jung und Alt haben diesen wichtigen Verkehrsknoten in Belgrad lahmgelegt. (Foto: zvg/Jovana Kulašević)

Über die Organisation der Proteste sagt Student Aleksić: «Die erste Fakultät, die blockiert wurde, war die Fakultät für Darstellende Künste in Belgrad. Daraufhin organisierten sich Dutzende weitere Fakultäten in Belgrad, Novi Sad und weiteren Städten.» Die Studierenden sind selbstorganisiert in Arbeitsgruppen, Aleksić selbst ist Teil der Arbeitsgruppe für Presseanfragen. Wichtig für ihn ist zu unterstreichen:

Wir haben keine Anführer!

Warum die jungen Menschen protestieren, sieht man am Beispiel von Nikolina Bobar (29). Im 2017 schloss sie ihr Journalistikstudium in Belgrad ab. Zu work sagt sie:

Nach Abschluss meines Grundstu­diums beschloss ich, meine Ausbildung im Ausland fortzusetzen, da in Serbien der Mangel an unabhängigen Medien immer offensichtlicher und die Möglichkeiten für professionellen Journalismus immer kleiner wurden.

Für ihren Master und das Doktorat wanderte sie nach Wien aus. Im Oktober 2024 kehrte sie mit dem Diplom im Sack retour nach Belgrad. Doch vor Ort erwartete sie eine grosse Ernüchterung: «Die Situation wurde nur noch schlimmer. Die extreme Umweltverschmutzung, die dysfunktionalen Institutionen und die allgegenwärtige Aggression auf den Strassen waren für mich ein Schock.»

Von links bis rechts vereint

Bobar ist bei den Protesten in Belgrad dabei: «Ich protestiere gegen eine Gesellschaft, in der Menschenleben nichts bedeuten, in der die Bürgerinnen und Bürger Angst haben müssen, dass ihr Haus, ihre Brücke oder ihr Vordach einstürzt, während sie auf ein Transportmittel warten.» Die grösste Motivation für Bobar ist die Solidarität auf den Strassen und all die Menschen, die gegen Korruption und Gewalt ein Zeichen setzen. Sie sagt:

Diese Proteste sind mehr als nur eine Reaktion auf eine Tragödie – sie sind ein Schrei nach Veränderung und Gerechtigkeit.

IN BELGRAD AN DEN PROTESTEN: Nikolina Bobar. (Foto: zvg)

Ob und wie die Veränderung eintreten wird, lässt sich noch schlecht abschätzen. Die Studierenden, welche die Proteste organisieren, wollen autonom und unabhängig von politischen Parteien bleiben. Zudem ist der Protest nicht von einer politischen Gesinnung geprägt, sondern sehr breit. Von links bis rechts sind alle auf den Strassen – was auf eine massive Unzufriedenheit der Bevölkerung hinweist.

Ob und wie die Veränderung eintreten wird, lässt sich bei Redaktionsschluss (4. Februar) schlecht abschätzen. Die Studierenden, welche die Proteste organisieren, wollen autonom und unabhängig von politischen Parteien bleiben. Zudem ist der Protest nicht von einer politischen Gesinnung geprägt, sondern sehr breit. Von links bis rechts sind alle auf den Strassen – was auf eine massive Unzufriedenheit der Bevölkerung hinweist.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.