Autor

Anne-Sophie Zbinden

Editorial

Jetzt wird’s zu bunt!

Wie die Bäume ihr verdorrtes Laub, verlieren die Versicherten langsam, aber sicher die Nerven. Denn sie geht wieder los, diese ohnmächtige Suche nach dem «besseren» Angebot, im Namen eines verordneten Glaubens an die «Marktkräfte». Dabei müssen die 49 Krankenversicherer im Obligatorium per Gesetz alle dasselbe anbieten. Zugegeben, die schiere Menge an Anbietern war auch schon mal schlimmer: 1903 waren es über 2000, 2014 immerhin noch 60. Doch die Bemühungen um eine Einheitskrankenkasse sind schon zweimal an der Krankenkassenlobby mit ihren Werbemillionen gescheitert. Deshalb ist und bleibt es nervenaufreibend. Und treibt die Kosten zusätzlich in die Höhe: Nach der letztjährigen Ankündigung der steigenden Prämien sind die Werbekosten der Kran­kenkassen von ungefähr 62 Millionen auf 100 Millionen gestiegen. Obendrauf kommt der Schock über die Prämienerhöhung von durchschnittlich 8,7 Prozent. NONSENS. Offiziell begründet der Krankenkassenverband Curafutura diesen massiven Anstieg damit, dass die Prämien die Kosten nicht mehr decken würden. Die Zahlen zeigen aber: 2022 flossen durchschnittlich 3760 Prämienfranken pro Kopf an die Kassen. Für die Leistungen gaben sie jedoch nur 3707 Franken pro Kopf aus. Anders ausgedrückt: Die Bevölkerung bezahlte mehr, als ihre medizinische Versorgung tatsächlich kostete. Ähnlich 2021: Die Kassen bezahlten Kosten von 3627 Franken pro Kopf, nahmen aber mit den Prämien 3788 Franken ein. Und ab mindestens 2011 zeichnen die Zahlen vom Bundesamt für Statistik dasselbe Bild.

Editorial

Die Schweiz, das Schaf

Mit viel Pathos und hoffentlich etwas weniger Weisswein feierte das Parlament am 12. September den 175. Geburtstag der Schweiz (auch wenn manche diesen lieber einem Mythos, einem deutschen Dichter und einem anderen Datum zuschreiben würden). Prost! «Das Theater ist klein, aber das Spektakel hat Grösse», berichtete der Franzose Alexis de Tocqueville. Nicht im Jahr 2023, sondern 1848. Weit weniger diplomatisch beschrieb der junge Friedrich Engels die Ereig­nisse vor der Staatengründung: Die «brutalen und bigotten Berg­stämme» würden sich «störrisch gegen die Zivilisation und den Fortschritt stemmen». Was andere Zeitzeugen wie Louis Napoléon, Karl Marx oder Michail Bakunin über die Gründung des schweizerischen Bundesstaates dachten, hat Jonas Komposch auf hier zusammengetragen. ABSURD. Seither hat die Verfassung zwei grosse Revisionen und Hunderte Teilrevisionen erfahren, und mit der Einführung des Frauenstimmrechts 1971 wurden endlich auch die Frauen Teil des Bundesstaates. Im Laufe der Zeit haben das Proporzsystem, der Gleichstellungsartikel oder der Beitritt zur Uno Einzug in die Verfassung gehalten. Aber auch einige absurde und völkerrechtlich umstrittene Vorlagen wie etwa Kleidungsvorschriften (Burka-Verbot) oder Turmbaubestimmungen (Anti-Minarett-Initiative).

Editorial

Neue Staffel, Episode 1

Eine der ersten Ärzte-Serien flimmerte vor bald 70 Jahren über die Bildschirme. Sie hiess «Medic» und zeigte blutig echt den halbgöttischen Kampf von Dr. Styner um Leben und Tod. Heute bekannter ist «Emergency Room». 15 Jahre lang liess sie ihre Ärztinnen und Ärzte hochpulsig in einer Not­aufnahme nähen, transplantieren und in Lichtgeschwindigkeit Computertomographien interpretieren. Schon fast unsterblich scheint «Grey’s Anatomy». Ging es in den ersten Folgen (2005) noch hauptsächlich um die Liebeleien der Ärzteschaft, so wurde die Serie spätestens ab der 16. Staffel ein «politischer Kommentar». ­Themen wie Abtreibungsverbot, häusliche Gewalt oder Armut wurden Teil des Spitalalltags, schreibt die Historikerin Nadia Pettannice in ihrer brillanten Serien-Analyse auf geschichtedergegenwart.ch. KOMPLIKATIONEN. Chronisch sind jedoch bei diesen Serien die Auslassungen: Serienfiguren ohne Medizinstudium? Null. Schmerzhafte Heilungsprozesse? Keine. Endlose Stunden bei der Physio? Nie.

Editorial

Jetzt geht’s ans Läbige

Es begann schon vor einiger Zeit, doch nun häufen sich die Anzeichen. Da war diese Frau im Supermarkt, die kopfschüttelnd das Olivenöl wieder ins Regal zurückstellte und dazu murmelte: «Das isch z tüür.» Da war dieses Video («20 Minuten») über eine Familie: zwei Kinder, beide Eltern zu 100 Prozent berufs­tätig, Einkommen 8500 Franken. Am Ende des Monats bleibt ihnen: nichts. Da sind diese Kommentare zu Artikeln über die Teuerung & Co.: «am Ende des Monats lasse ich eine Mahlzeit pro Tag aus» oder «ich überlege mir, einen zweiten Job zu suchen» … LÄPPISCH. Im Jargon heisst das Kaufkraftverlust, Teuerung, Inflation … zu schweizerdeutsch: es geht ans Läbige. Und zwar deshalb, weil die Löhne nicht mit den Kosten Schritt halten. Zum Beispiel die Krankenkassenprämien: Seit 1997 sind die Prämien um 142 Prozent gestiegen, die Löhne hingegen um läppische 15 Prozent (die eindrückliche Grafik finden Sie hier). Oder die Mieten: Der Gewerkschaftsbund hat berechnet, dass die Mieten bis Ende 2024 um bis zu 8 Prozent steigen werden. Und das, obwohl viele Arbeitnehmende für 2023 nicht einmal den Teuerungsausgleich erhalten haben.

Editorial

Heldinnen der Energiewende

Die Protestbewegung «Renovate» ist durch ihre Klebeaktionen in aller Munde, und das nicht gerade in gehobener Sprache. So gemütserhitzend diese Klebereien auch sein mögen, so unspektakulär ihre einzige Forderung: die Schweiz soll ihre Häuser besser isolieren. Nicht gerade revolutionär, aber ein wichtiger Schritt für den Klimaschutz. Denn die Gebäude sind in der Schweiz für 44 Prozent des Energieverbrauchs und für rund einen Drittel der CO2-Emissionen verantwortlich. Das Klima dankt eine Gebäude- renovation gleich dreifach: weniger Wärme entweicht ungenutzt in die Luft, erneuerbare Heizsysteme heizen die Erderwärmung weni- ger an, und jedes Haus, das saniert wird, ist besser als ein Beton-Neubau.

Editorial

Lila Triumph

Es klingt wie ein 14.-Juni-Märchen: 30 Reinigerinnen treten frühmorgens nicht zur Schicht, an, sondern zum Streik! Und skandieren: «Mujeres, unidas, jamás serán vencidas!» (Wenn Frauen zusammenstehen, werden sie niemals besiegt). Und siehe da, eine kurze Verhandlungsrunde später: Sieg auf ganzer Linie! Die Reinigungsfirma verpflichtet sich, die Reisezeiten und Mittagsspesen zu bezahlen, für Lohngleichheit zu sorgen und die Löhne fortan pünktlich zu bezahlen. Es ist kein Märchen, sondern ein handfester Frauenstreik-Erfolg. SCHIMPF UND SCHANDE. Dabei sei Streik ver­altet, der Frauenstreik sowieso. Und überhaupt, was stürmen die Frauen denn jetzt noch immer? Gleichberechtigung sei ja schon Realität, Lohndiskriminierung eine Mär. Rechtsbürger­liche Männer (mit Verlustängsten?) twitterten den 14. Juni klein, Mitte-Frauen schrieben einen Bruch der Frauenbewegung herbei. In den Wochen und Monaten vor dem 14. Juni führten der Arbeitgeberverband und Politikerinnen und Politiker von rechts bis Mitte,

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Frauen brauchen keine Hilfe

«Ich habe jeweils am Montag meinen Papa-Tag. Damit kann ich meine Partnerin entlasten, damit sie mehr arbeiten kann.» Diesen haarsträubenden Satz gab Simon Wey vom Arbeitgeberverband im Schweizer Radio zum besten. Und das war nicht in den 1950ern, sondern 2023 in einem Gespräch über Teilzeitarbeit. Frau könnte diesen Satz als Arbeitgeber-Gedöns abtun, wenn er nicht gespickt wäre mit all den tief in den Köpfen verankerten alten Zöpfen in Sachen Gleich­berechtigung. Angefangen beim «Papa-Tag». Was soll das denn sein? Hängt Vaterschaft vom Wochentag ab? Montags Papa, Dienstags dann leider nicht mehr? Und hat sich jemals eine Frau erdreistet, ihren Anteil an der Kinderbetreuung als Mama-Tag zu bezeichnen? Mittwochs hängt sie dann die Mutterschaft in den Schrank und nimmt das Deux-pièces hervor?

Editorial

Bügle, schaffe, chrampfe

Auf der Büez, im Stollen, in der Bude, im Gschäft, im Job. Bügle, schaffe, chrampfe, malochen, schuften oder Brötli verdienen – arbeiten halt. Doch wie gross sind die Brötli, und hat’s noch Speck drin? Das ist hier die Frage. Manche behaupten, die Brötli-Grösse hänge von der Leistung ab. Doch wer leistet mehr, die Reinigerin, die in vier Jobs an sieben Tagen pro Woche arbeitet, für 3400 Franken im Monat? Oder der Credit-Suisse-Manager, der vom stets frisch geputzen Büro aus Milliarden verlocht und dafür Boni kassiert? LOCH. Schaufeln, pflegen, backen. Schrauben, putzen, metzgen. Regale einräumen, Kinder betreuen, Ware verpacken – arbeiten halt. Leistungen, deren Systemrelevanz viele schon wieder vergessen haben. Zumindest manche Firmenchefs, als es darum ging, die Löhne zu erhöhen oder schon nur die Teuerung auszugleichen. Im letzten Jahr sind die Löhne in der Schweiz um gerade mal 0,9 Prozent gestiegen, schreibt das Bundesamt für Statistik.

Editorial

Geld für Götter

Nervosität beruhigen, Panik verhindern, Vertrauen zurückgewinnen, Zuversicht vermitteln, freie Entfaltung zulassen. Was nach der Beschwichtigung trotziger Kinder klingt, ist der Jargon, mit dem die Finanzwelt über ihre Märkte spricht. Und sich damit gleich selbst demontiert. Denn diese Aussagen stehen im krassen Widerspruch zur traditionellen Sichtweise der Finanzmärkte: Nach der klas­sischen Theorie über die Kapitalmärkte kann es gar keine nervösen Märkte geben, weil der Markt ja vom Homo oeconomicus dominiert wird, vom stets logisch handelnden Menschen, der immer nach dem maximalen Nutzen strebt. GÖTTER. Seit Jahrzehnten wird zwar auch in den Wirtschaftswissenschaften Kritik an dieser Sichtweise geübt – aber offenbar nur mit mässigem Erfolg. Stattdessen erscheinen die «Märkte» als von mensch­lichem Handeln losgelöste Götter, die es zu besänftigen gilt. Notfalls auch per Aus­hebelung der Demokratie. Und dies nicht erst seit dem Untergang der Credit ­Suisse. Denn das Regieren per Notrecht gehöre angesichts grosser Finanzkrisen seit bald 100 Jahren zum Staatsverständnis der bürgerlichen Politik, schreibt Philipp Müller in seiner historischen Einordnung des jüngsten Bankenfiaskos.

Editorial

Alles nur geklaut?

Money, money, money must be funny, in a rich man’s world – Geld ist lustig in der Welt der reichen Männer. Das werden sich die CS-Manager wohl auch gedacht haben, als sie in den letzten 10 Jahren zwar insgesamt 3 Milliarden Franken Verlust einfuhren und dennoch ganz fidel 32 Milliarden Franken Boni einsteckten . Dabei erfüllen Boni ihre Aufgabe nicht: im besten Fall sind sie wirkungslos, im schlechtesten Fall fördern sie betrügerisches Verhalten. Das sagt Antoinette Weibel im Onlineportal Ellexx. Sie ist Forscherin an der Universität St. Gallen (HSG), einer Institution fernab jeglicher linker Systemkritik. RIEN DE RIEN. Um die Finanzwelt zu retten, musste jetzt der Staat einspringen – 14 Jahre, zwei Monate und viele falsche Schwüre nach der UBS-Krise vom Dezember 2008. Denn statt an griffigen Kontrollen wurde fleissig an Karrieren gewerkelt. Non, rien de rien, non, je ne regrette rien … Die UBS dankt’s Finanzministerin Karin Keller-Sutter. Der Deal: Der Bankkonzern kann sich seine ärgste Schweizer Konkurrentin für läppische 3 Milliarden unter den Nagel reissen und bekommt dafür «Versicherungen» im Wert von 259 Milliarden Franken, das Risiko tragen wir alle – ist das alles nur geklaut? Eo, eo.